Von 1990 bis 2009 leitete Volker Ullrich bei der Zeit das Ressort „Politisches Buch“ und profilierte sich als ein in allen geschichtspolitisch relevanten Debatten präsenter Haushistoriker des Hamburger Blattes. Die geistige Nahrung, von der der heutige Ü-80er zehrte, trug er seit 1962 stets im Tornister. Sie bestand, wie er im Nachwort zu seinem neuesten, den „Schicksalsstunden“ der Weimarer Demokratie gewidmeten Buch verrät, aus der damals Furore machenden Studie „Griff nach der Weltmacht“ seines Lehrers Fritz Fischer, die dem wilhelminischen Kaiserreich die Hauptverantwortung für den Ersten Weltkrieg aufbürdete, sowie aus der von Fischer empfohlenen Habilitationsschrift des Politologen Karl Dietrich Bracher über „Die Auflösung der Weimarer Republik“.
Beide Werke, die „fatale Kontinuitäten“ deutscher Geschichte seit 1871 aufdecken wollen, bestimmten sein eigenes Lebensthema: die Frage, „wie es zum Zivilisationsbruch von 1933/45 hatte kommen können“. Allerdings gibt auch, sowenig wie seine Hitler-Biographie (2013/18) und die einem Weimarer Krisenjahr gewidmeten Impressionen zu „Deutschland 1923“ (JF 43/22), dieses jüngste Erzeugnis aus dem Hobbykeller des lupenrein das westdeutsche Juste milieu verkörpernden Linksliberalen darauf keine schlüssige Antwort.
Denn die Binsenweisheit, daß „Geschichte immer offen“ sei, die erste deutsche Demokratie also nicht zwangläufig scheiterte, erklärt nichts. Plausibler klingt, was sich der Leser erst aus jenen rekonstruierten „Schicksalsstunden“ zusammenreimen muß, als die Weichen peu à peu Richtung Abgrund gestellt wurden. Es ist das Versagen der Führungselite des Reiches, daß sie Alternativen zum Niedergang nicht erkannte: während des Kapp-Putsches (1920), der „Tollhauszeit“ von Ruhrbesetzung und Hyperinflation (1923), bei der Wahl des „Ersatzkaisers“ Hindenburg zum Reichspräsidenten (1925), beim Bruch der bürgerlich-sozialdemokratischen Koalition in der Weltwirtschaftskrise (1929), dem Sturz des Reichskanzlers Heinrich Brüning (1932) und dem „Preußenschlag“ seines Nachfolgers Franz von Papen.
Damit bestätigt Ullrich unbeabsichtigt, was die Weltgeschichte der Revolutionen lehrt, vom Sturz antiker Tyrannen bis zur Beseitigung des SED-Regimes: Fundamentale Machtwechsel wurzeln nicht primär im Widerstand der Beherrschten, sondern in der Unfähigkeit der Herrscher. Obwohl dies auch die „Moral aus der Geschichte“ des Weimarer Scheiterns ist, versucht Ullrich daraus ein Lehrstück für die Berliner Republik zu drechseln. Gegen jede historische Erfahrung bedroht für ihn daher nicht die Katastrophenpolitik der Ampel „unsere fragile Demokratie“, sondern ihre „rechtspopulistische“ Opposition.
Volker Ullrich: Schicksalsstunden einer Demokratie. Das aufhaltsame Scheitern der Weimarer Republik. Verlag C.H. Beck, München 2024, gebunden, 383 Seiten, Abbildungen, 26 Euro