© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/24 / 15. November 2024

Rückblick teilweise vernebelt
Die Lebenserinnerungen des Post-68er-Intellektuellen Stephan Wackwitz zeichnen prägnante Beobachtungen aus aller Welt ebenso wie milieugeprägte Ignoranz für das Hiesige aus
Ludwig Witzani

Der Publizist Jürgen Busche hatte in seinem lesenswerten Buch „Die 68er. Biographie einer Generation“ die Geburtsjahre der 68er auf die Jahre 1943 bis 1948 eingegrenzt. Wer älter war wie etwa Jürgen Habermas, Heinrich August Winkler (oder Helmut Kohl) gehörte zur so genannten „Große-Brüder-Generation“, die insgesamt angepaßter oder reformistischer daherkam. Die Rolle der „Kleine-Brüder-Generation“, also jener Gefolgsleute der 68er, die um 1950 oder später geboren wurden, blieb bis heute dagegen fast unbeachtet. Dabei waren sie es, die als akademisch-mediale Massengefolgschaft der Ideologie der 68er erst ihre institutionelle Präsenz gesichert hatten.

Inzwischen sind auch diese „kleinen Brüder“ der 68er ins Rentenalter gekommen und schauen zurück auf das Land, das sie als Abgeordnete, Redakteure, Schriftsteller, Beamte oder Professoren mitgestaltet haben. Und siehe, alles ist gut. Der  Zeit-Journalist Thomas E. Schmidt, der vor kurzem eine beispielhafte Mainstreamer-Biographie vorgelegt hat (JF 43/22), fühlt sich wohl in Deutschland, das für ihn in der Ära Merkel zum zivilbürgerlichen Champion aller Klassen aufgestiegen ist.  

In diese Kategorie einer naiven Systemaffirmation wird man den vorliegenden Lebensrückblick  von Stephan Wackwitz nicht einordnen dürfen. Zwar ist auch Wackwitz ein „kleiner Bruder“ (Ge-burtsjahrgang 1952), aber einer, der das Selberdenken im linken Biotop nicht verlernt hat, obwohl sein Lebensweg etwas Exemplarisches aufweist. Die jugendlichen Zweifel am Monopolkapitalismus und der eigenen Begabung weichen, als sich der bundesrepublikanische Wohlfahrtsstaat als überraschend gemeinwohlkompatibel erweist und Leuten wie ihm eine wirtschaftlich sichere Existenz ermöglicht. Der studierte Germanist Stephan Wackwitz  absolviert eine Karriere innerhalb des Goethe-Instituts und bekleidet nacheinander Positionen in London, New York, Tokyo, Krakau, Bratislawa, Tiflis und Minsk (das sind die „sieben Weltreisen“). 

Sei es, daß es diese Ausweitung der Horizonte war, die den ideologischen Linksmief der eigenen Sozialisation ausdünnte, sei es, daß der Geist des Neuanfangs von 1989 eine Revolution der Denkungsart in Gang setzte – jedenfalls löste sich Stephan Wackwitz Schritt für Schritt vom „marxistischen Irresein“ und entwickelte unter dem Einfluß  angelsächsischer Denker eine „ironische“ Perspektive, die radikale Zweifel an jedem „abschließenden Vokabular“ kultiviert – einfach deswegen, weil sie selbst schon so viele abschließende Vokabulare kennengelernt hat. Das ist eine erfreuliche Entwicklung, die allerdings die Frage aufwirft, wie es möglich ist, auf dem Hintergrund beliebiger Ideologeme zu Übereinkünften zu gelangen. 

Die Diskussion dieser Frage in Anlehnung an die Streitgespräche zwischen Settembrini und Naphta in Thomas Manns „Zauberberg“ gehört zu den einprägsamsten Passagen des Buches. Naphtas und Settembrinis unvereinbaren Positionen stellt Wackwitz die Romanfigur des Mijnheer Pepperkorn gegenüber, dessen überwältigende persönliche Präsenz die Gegenläufigkeit blasser Ideologien überbrückt und im Interesse pragmatischer Entscheidungen beiseite schiebt. Es spricht für die geistige Unabhängigkeit des Autors, daß er in diesem Zusammenhang auch Helmut Kohl, dem pragmatischen Mijnheer Pepperkorn der 1980er und 1990er Jahre, seinen Respekt nicht versagt. 

Auf dem gleichen hohen Niveau befinden sich Wackwitz’ Betrachtungen zu London, New York, Tokio, Krakau, Preßburg, Tiflis und Minsk. Was der Autor über seine Gastländer notiert, kommt leicht und locker daher, ist aber Reisefeuilleton vom Feinsten. In Osteuropa entdeckt der Autor die Ursprünge der Moderne abseits der großen Städte in den winzigen, abgelegenen Dörfern des einstigen k.u.k. Reiches in der Slowakei oder in Mähren, in denen der Verleger Samuel Fischer oder der Psychologe Sigmund Freud geboren wurden. Jedem passionierten Reisenden wird das Herz aufgehen, wenn er von der Begeisterung liest, mit der Wackwitz zum ersten Mal eine neue Stadt, ein Museum oder eine unbekannte Landschaft erkundet und dafür auch die richtigen Worte findet. 

Das läßt sich allerdings über Wackwitz’ Betrachtungen über Deutschland nicht sagen. Zwar be-merkt der Autor eine zunehmende „allgemeine Gereiztheit der Landsleute“, ein schlampiges Auftreten und einen neuen „identifikatorischen Ton“ in der öffentlichen Debatte, aber das sind nur Marginalien, die das positive Deutschlandbild des Autors nicht wirklich tangieren. War schon der Regierungsantritt des Kabinetts Schröder-Fischer „der politische Ausdruck einer Einwanderung meiner Generation in das eigene Land gewesen“, so begrüßt der inzwischen ganz nach Deutschland zurückgekehrte Wackwitz den Regierungsantritt der Ampelkoalition in schöner Eintracht mit seinem Sohn als verheißungsvollen Beginn eines neuen „Projektes“ – von seiner hemmungslosen Begeisterung für eine rückhaltlose Ukrainehilfe ganz zu schweigen. 

Befremdliche Blindheit über die eigene Blase hinaus 

So bleibt der Leser am Ende etwas verwundert zurück. Der luziden Feinfühligkeit, mit der Wackwitz die Fremde und den eigenen Werdegang beschreibt, steht eine erschütternde Ignoranz für die aktuelle Lage des Landes gegenüber, in das der Autor zurückkehrt. Deutschlands grundlegende Veränderung durch die unkontrollierte Einwanderung seit 2015, die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, die zunehmende Einengung des Debattenkorridors und das Ende des Landfriedens durch ein Überhandnehmen der öffentlichen Gewalt bleiben außerhalb einer ernsthaften Betrachtung. Die ironische Distanz zu allen Letztbegründungen, auf die sich der Autor mit Recht so viel zugute hält, versagt angesichts der Zustimmung zum ökologischen Transformationsprojekt der Ampelkoaliton ab 2021. So bleibt am Ende ein möglicherweise exemplarischer Befund, der der Generation der „kleinen Brüder“ kein gutes Zeugnis ausstellt: Aus dem linksradikalen Selbstzweifler ist ein gebildeter Sympathisant des Zeitgeistes geworden, ein Halbhybrid aus 68er-Sozialisation und profunder Belesenheit, der innerhalb seines eigenen Milieus eine moderate Entwicklung durchgemacht, aber blasenübergreifend mit einer befremdlichen Blindheit geschlagen ist. 


Stephan Wackwitz: Geheimnis der Rückkehr. Sieben Weltreisen. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2024, gebunden, 368 Seiten, 25 Euro


Foto: Beskiden unweit der Geburtsorte von Sigmund Freud und Samuel Fischer: Generation der „kleinen Brüder“ kein gutes Zeugnis ausgestellt