© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/24 / 15. November 2024

Parkettsicher das Desaster angesteuert
Serie Bewegende Köpfe, Teil 22: Bernhard von Bülow steuerte als Reichskanzler Deutschland in die außenpolitische Isolation
Rainer F. Schmidt

Er wurde mit 51 Jahren der jüngste Kanzler des Kaiserreichs. Er blieb länger im Amt als alle Nachfolger Bismarcks. Und in den neun Jahren seiner Amtszeit stieg Bernhard von Bülow zum populärsten Politiker auf. Womöglich hing dies damit zusammen, daß er, wie schon kluge Zeitgenossen spotteten, jede Eigenschaft außer Größe besaß. Er war die eleganteste, weltläufigste und gebildetste Erscheinung seiner Epoche. Ein vollendeter Diplomat, geistreich und geschliffen in der Formulierung, dessen Bonmots noch heute zitiert werden. Ein weltgewandter Lebemann und Charmeur, polyglott und mit blendenden Umgangsformen auf dem internationalen Parkett. Ein unwiderstehlicher Schürzenjäger, der den Damen ungeniert den Hof machte. Und ein perfekter Debattenredner, der ein endloses Feuerwerk an klassischen Zitaten, treffenden Scherzen und geistreicher Schlagfertigkeit abbrannte. Kurzum: Er konnte, vom Kaiser angefangen bis hin zu den Reichstagsabgeordneten, jeden bezirzen und im Handumdrehen um den Finger wickeln.

Aber hinter dieser glänzenden Fassade lauerten die düsteren Antriebskräfte seines Lebens: Eitelkeit und Ehrgeiz, Trägheit und Zynismus, Blasiertheit und Boshaftigkeit. Immer kämpfte er rücksichtslos um die Macht. Aber sobald sie in seinem Besitz war, zerrann sie ihm unter den Fingern, weil er sie zelebrierte und nicht ausübte. Nicht er, sondern Friedrich August Holstein, Wilhelm II. und Alfred von Tirpitz übten Macht aus. Er dagegen vernachlässigte seine Pflichten, erging sich in Oberflächlichkeiten und Hedonismus und überließ es seinen Untergebenen, die Details zu regeln. Dabei gab es mehr als genug an Gefahren, als er im Oktober 1900 endlich den höchsten Gipfel der Macht erklommen hatte. Er nahm die Einkreisung des Reiches durch Frankreich, Rußland und England nur nicht wahr und überspielte alle Tücken der Lage mit Charisma und beifallsumrauschter Rhetorik. Immer hatte er die falschen Werkzeuge und Winkelzüge zur Hand und wiegte sich in Sicherheit, wo längst keine mehr war. Die Folgen waren desaströs. Denn sie führten das Reich zuerst in die Isolation und dann in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs.

Die Natur hatte ein Füllhorn reicher Gaben über ihm ausgeschüttet. Von Beginn an stand er auf der Sonnenseite des Lebens. Sein Vater, Abkömmling eines alten mecklenburgischen Adelsgeschlechts und Mitarbeiter Bismarcks als Staatssekretär im Auswärtigen Amt, war gestorben, als der Sohn dreißig war. Er selbst, im Mai 1849 in Klein-Flottbeck geboren, einer Gemarkung am Elbufer im Bezirk Altona, war mit einem beträchtlichen Vermögen in Höhe von fünf Millionen Goldmark ausgestattet, das ihm ein Vetter mütterlicherseits aus dem Bankgewerbe hinterlassen hatte. Damit konnte er 1905 den ersehnten Fürstentitel annehmen und ein standesgemäßes Leben führen. Er war der Jugendfreund der Söhne des von ihm verehrten Bismarck, mit denen er seine Kindheit in Frankfurt verbrachte, als sein Vater und der spätere Kanzler dort als Diplomat am Bundestag des Deutschen Bundes tätig waren. Das war sein Billett für die große Karriere. Hinzu trat seine Ausbildung als Jurist, mit Studienaufenthalten in Lausanne, Leipzig, Berlin und Greifswald, und sein Eintritt in das Husaren-Regiment „König Wilhelm I.“, wo er es bis zum Leutnant brachte. Allesamt Grundsteine dafür, daß er zum befähigtsten Diplomaten des Reiches aufsteigen konnte.

Er habe mehr Machiavelli gelesen, als er verdauen könne

Entsprechend imponierend gestaltete sich seine Laufbahn im Auswärtigen Amt. Dort war er, nach Stationen in Sankt Petersburg, Wien, Rom, Athen und Paris immer höher geklettert, bis er in Bukarest und ab 1893 in Rom zum ersten Mal diplomatische Vertretungen leiten durfte. Überall machte er mit seiner charmierenden Erscheinung Eindruck: strahlend blaue Augen, ein sorgfältig gestutzter Schnurrbart, teure Maßanzüge und die bestrickende Aura eines Mannes von Welt. Dies bescherte ihm zahlreiche leidenschaftliche Affären, die er später in seinen Memoiren süffisant ausbreitete. Seine Heirat freilich war eine Sache der Karriere: 1886 ehelichte er die italienische Adelige Maria Beccadelli di Bologna, Prinzessin di Camporeale.

Alle Menschen, die ihm nahestanden, waren fasziniert und abgestoßen zugleich: von der einnehmenden Atmosphäre, die er verströmte, und von seinem ins Auge stechenden Narzißmus. Alfred von Kiderlen-Wächter, ein Kollege im Auswärtigen Amt, nannte ihn den „Aal“. Friedrich von Holstein bemerkte, Bülow habe mehr Machiavelli gelesen, als er verdauen könne. Der britische Premierminister Arthur Balfour stellte fest, daß unter der glänzenden Fassade nichts als Gips aufscheine. Und sogar sein Bruder räumte ein: „Bernhard würde ein großartiger Kerl sein, wenn sein Charakter nur die Hälfte seiner Persönlichkeit erreichen könnte.“ 

Die ganze Skala seiner schillernden Eigenschaften offenbarte sich in seinen Memoiren. Vier dicke Folianten, die nach seinem Tode als „Denkwürdigkeiten“ im Jahre 1930 erschienen, reichten gerade mal aus, um seine politische Bedeutung ins Licht zu rücken. Es war der Versuch, seine Leistungen in die Geschichte zu stellen und seinen Ruf für immer zu begründen, indem er den aller anderen, einschließlich des Kaisers, durch Gemeinheiten, Schlüpfrigkeiten und Sottisen in den Schmutz zog. Heraus kam das glatte Gegenteil. Die von Eitelkeit und Bosheit wie von brillant dargestellten Szenen und funkelnden Dialogen überfließenden Erinnerungen schädigten seinen eigenen Ruf irreparabel. Wilhelm II., der sich bis zum Bruch mit ihm im Jahre 1908 nach der „Daily-Telegraph-Affäre“ überaus empfänglich für alle Schmeicheleien erwiesen hatte, die Bülow wie kein zweiter zu handhaben verstand, traf mit seiner Bemerkung voll ins Schwarze, wenn er kommentierte: „Bülow ist der einzige mir bekannte Fall eines Mannes, der zuerst gestorben ist und dann Selbstmord begangen hat.“



Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.


Bild: Bernhard von Bülow