© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/24 / 15. November 2024

Trauer über den Verlust der sozialistischen Utopie
Die freudlose 68er-Generation

Psychisch waren Linke aller Couleur weder im Westen noch im Osten auf die Wiedervereinigung vorbereitet. Das erklärt für die Berliner Psychoanalytikerin, Publizistin und „gelernte DDR-Bürgerin“ Annette Simon deren bis heute anhaltende Weigerung, „ein vereintes Deutschland als Heimat, als etwas Gutes“ anzuerkennen. Vor allem die bundesdeutschen 68er litten und leiden an diesem Syndrom. Ihr vielfach in lebenslange Beziehungsabbrüche mündender Konflikt mit der Elterngeneration und deren „unbewältigter NS-Vergangenheit“ habe eine Identifikation mit dem Bonner Staat verhindert. Auch als nach dem „Marsch durch die Institutionen“ in den 1980er Jahren die „Verbeamtung der Revolutionäre“ voranschritt und der öffentliche Dienst zur bevorzugten Heimstätte der 68er geworden war, blieb ihnen die notorische Unfähigkeit, sich zu freuen über die Tatsache, daß sie die Gesellschaft, in die sie hineinwuchsen, mitgestalten durften. Mehr als negative Identität konnte aus solcher „Freudlosigkeit“ aber nicht erwachsen. Hinzu sei dann nach dem Mauerfall gekommen, was die West- und die weniger vom Generationenkonflikt geprägten Ost-68er einte: die Trauer über den Verlust der sozialistischen Utopie. Darin könnten die deutsch-deutschen 68er und ihre Kinder sich heute eigentlich zusammenfinden, denn beide Linksbewegungen haben schon 1989/90 nichts anderes gewollt als „eine sozialistische Revolution, ein sozialistisches Land“. Auch 35 Jahre später könnte  diese Utopie Identität stiften und jenes positive Heimatgefühl vermitteln, das jetzt „von rechts reklamiert und besetzt wird“ (Blätter für deutsche und internationale Politik, 11/2024). (dg) www.blaetter.de