© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/24 / 15. November 2024

„Ich denke oft an die Toten“
Interview: Der Volkstrauertag erinnert uns an die Millionen deutscher Opfer der Weltkriege. Unvorstellbares mußte die heute fast vergessene Erlebnisgeneration erdulden. Zu ihr gehört der hundertjährige Kurt Meissner, der durch das Grauen von Krieg und Gefangenschaft ging
Moritz Schwarz

Herr Meissner, waren Sie nicht zu jung für den Krieg?

Kurt Meissner: Im Dezember 1941 wurde ich 17, alt genug, um im Februar 1942 zum Reichsarbeitsdienst eingezogen zu werden. 

Eine nach militärischem Vorbild organisierte NS-Einrichtung, in der Jugendliche ihre ab 1935 gesetzliche sechsmonatige Arbeitsdienstpflicht ableisteten.

Meissner: Richtig, und erstmal bekamen wir eine Grundausbildung mit Marschieren, Exerzieren mit dem Spaten etc. Dann wurden wir im Frühsommer zu meiner Überraschung nach Rußland verlegt. Natürlich ins angeblich sichere Hinterland, fern der Front. Doch schon auf der Reise sollten wir unsere erste Bekanntschaft mit dem Krieg machen. Während wir in Güterwaggons des Nachts friedlich schlafend gen Osten rollten, knallte und krachte es plötzlich, Holz splitterte, und über unseren Köpfen zischten Gewehrkugeln. Dann spürte ich zu meinem Schrecken, wie mir etwas Feuchtwarmes ins Gesicht spritzte – o Gott, Blut! Ich war getroffen! Doch Gott sei Dank: Das Feuer der Partisanen, die zum Glück nun hinter uns lagen, hatte meine über mir hängende Feldflasche durchschlagen, aus der warmer Kaffee troff. Ich war so erleichtert!

„Diesmal kamen wir noch mit einem Schrecken davon“ 

Was, wenn die Freischärler den Zug tags beschossen und Sie und Ihre Kameraden gesessen oder gestanden hätten?

Meissner: Das will ich mir lieber gar nicht ausmalen. Doch diesmal kamen wir alle nochmal mit dem Schrecken davon. 

Das war bald nicht mehr der Fall?

Meissner: Keiner von uns hätte geglaubt, daß für etliche von uns das Leben in wenigen Wochen vorbei sein sollte. Mit 17 Jahren kann man sich das nicht vorstellen. 

Sie gerieten erneut in einen Hinterhalt?

Meissner: Schlimmer, viel schlimmer: Vor Moskau wurden wir entladen, um Straßen instand zu setzen, Bunker zu bauen etc. Zunächst war alles friedlich, dann aber brach eine russische Offensive los, die unsere Truppen zurückwarf und die nun auf uns zurollte. Zwar hatten wir auch schießen gelernt und waren für alle Fälle mit französischen Beutegewehren ausgestattet, aber daß wir damit einem Großangriff würden entgegentreten müssen, damit hatte keiner gerechnet. Doch schnurstracks gliederte man uns der Infanterie ein und warf uns gegen die Russen. Wir hatten gerade unsere Schützenlöcher ausgehoben, als zu unserem Entsetzen ein T-34-Panzer auf uns zurollte. Niemand hatte eine panzerbrechende Waffe! Und unser Gewehrfeuer prallte einfach ab. 

Konnten Sie nicht fliehen?

Meissner: Hätten wir unser Loch verlassen, wären wir niedergemäht worden. So kroch das Ungetüm unerbittlich heran, das um so schrecklicher wurde, je näher es kam – und hielt nun ausgerechnet auf das Schützenloch zu, in dem ich mit einem Kameraden stand! Wir hatten es knapp unter dem Kamm eines Abhangs gegraben, den das Monstrum nun dabei war zu überwinden. Schon stieg der Koloß über den Kamm schräg über uns in die Luft – bis er vorne Übergewicht bekam und Tonnen von Stahl vor uns auf die Erde niederdonnerten. Und unter ohrenbetäubendem Lärm rollte er nun über unser Loch. Das können Sie sich, das kann sich keiner vorstellen! Jeden Moment würden die stählernen Kettenglieder uns erfassen, uns zerreißen und zermalmen! Aber was für eine Überraschung, als er einfach weiterfuhr – weiter auf ein anderes Schützenloch zu. Dort erst stoppte er, legte für eine Kette den Rückwärtsgang ein und begann nun, sich um die eigene Achse zu drehen – und sich so immer tiefer ins Erdreich zu schrauben. Ich höre heute noch die furchtbaren Entsetzensschreie unserer verzweifelten Kameraden, als ihr Loch unter der rotierenden Last nachgab und die beiden zwischen den Ketten zerquetscht wurden. Doch waren sie nur die ersten, nicht aber die letzten von uns, die an diesem Tag auf diese grauenvolle Weise umkamen.

Warum wurde Ihr Schützenloch verschont?

Meissner: Die einzige Erklärung ist, daß wir so nah hinter dem Kamm gegraben hatten, daß der Fahrer es bei dessen Übersteigung und angesichts der eingeschränkten Sicht aus einem Panzer nicht sah. Doch an diesem Tag habe ich drei Dinge gelernt: wie es ist, Kameraden sterben zu sehen, wie es ist, andere zu töten und was Todesangst ist. 

„Wie wir mit all dem fertig wurden, danach hat keiner gefragt“ 

Wie verarbeitet man das?

Meissner: Danach hat keiner gefragt. Es war ja damals viel vom Heldentod die Rede. Ich aber habe die Realität in ihrer äußersten Brutalität kennengelernt – all die furchtbar Verwundeten, die Verstümmelten, die Sterbenden und die Toten, die ich so jung und völlig unvorbereitet sehen mußte und die bis heute in meiner Erinnerung sind. Eine große Rolle, das zu ertragen, hat die Kameradschaft gespielt, sie war wirklich etwas Großartiges und bewirkte, daß man sich trotz Grauen und Angst dort zu Hause fühlte. Nur an Panzer habe ich mich nicht mehr herangetraut, obwohl ich mehrfach Gelegenheit hatte, welche zu knacken. Aber den Horror, daß, geht es schief, er mich sich vornehmen würde, habe ich nie mehr überwunden. 

Wie war es, mit 17 töten zu müssen?

Meissner: Auch das ist schrecklich. Aber wenn es heißt, er oder ich, dann zögern Sie nicht. Als MG-Schütze habe ich später viele Russen getötet, furchtbar. Doch so auf die Entfernung ging es noch. Aber ich war auch in Nahkämpfe verwickelt und mußte einmal einen jungen Russen mit meinem Dolch erstechen. Ich habe immer wieder an ihn gedacht und daran, daß auch er eine Mutter hatte, die hoffte und betete, er würde zu ihr heimkehren.

Wie haben Sie das alles überlebt?

Meissner: Das frage ich mich manchmal auch. Dabei hatte damals der Krieg für uns noch gar nicht richtig begonnen, denn offiziell waren wir ja noch gar keine Soldaten. Ende 1942 ging die Arbeitsdienstzeit zu Ende, und die, die noch lebten, wurden nach Hause entlassen. Doch nur, um kurz darauf den Gestellungsbefehl zu bekommen. Wir wurden zur Infanterie eingezogen und bekamen jetzt erst eine richtige militärische Ausbildung. Wobei Sie sich vorstellen können, daß wir nach allem, was wir erlebt hatten, unseren Ausbildern mehr beibringen konnten, als sie uns. Danach hieß es, ab nach Stalingrad, wo wir aber zum Glück nie ankamen. Stattdessen landeten wir auf der Krim. Dort wurde ich 3. MG-Schütze. Als der 1. Schütze fiel, rückte ich zum 2. Schützen auf und der zweite zum ersten. Als auch der fiel, war ich an der Reihe und wurde 1. Schütze. Doch zum Glück, übersprang mich der Tod, und für meine Leistungen im Gefecht erhielt ich sogar das Eiserne Kreuz 2. Klasse. Doch muß ich Ihnen ehrlich sagen, ich legte gar keinen Wert darauf.  

Warum nicht?

Meissner: Wissen Sie, zu den Einheimischen, Weißrussen, Ukrainer und Tataren, hatte ich während der ganzen Zeit in Rußland immer ein gutes Verhältnis. Die sagten mir „Krieg schlecht!“, und wie konnte ich anders, als ihnen aus vollem Herzen zuzustimmen? Und um ehrlich zu sein, im Grunde haben sich die Russen doch nur verteidigt. Denn was hatten wir dort eigentlich zu suchen?

Sie waren von Ihrem Kampf nicht überzeugt?

Meissner: Von unserem Kampf schon, denn wir kämpften schlicht ums nackte Überleben, aber nicht von diesem Krieg.  

Wie hatten Sie bei dessen Ausbruch über ihn gedacht? 

Meissner: Da war ich 15, und dachte natürlich Unsinn wie, er möge nicht so bald vorbei sein, damit ich ihn nicht verpasse. Denn die Heldengeschichten, die man uns darüber erzählte, gefielen uns natürlich. 

Hatte man in Ihrer Familie denn keine politische Meinung, etwa zu den ihm vorausgehenden Streitfragen um Danzig oder den polnischen Korridor? 

Meissner: Mein Vater, ein Bahnangestellter, war zwar SA-Mann, aber nur um beruflich voranzukommen. Mir selbst gefiel es im Jungvolk ganz gut, nicht aber später in der HJ, weshalb ich möglichst viele Lehrgänge besuchte, um nicht am normalen HJ-Dienst teilnehmen zu müssen. Stattdessen lernte ich nützliche Dinge, die mir später im Krieg das Leben retteten. Bis 1938 hatte ich allerdings nichts gegen die Nazis, doch als die Synagogen brannten, und ich anderentags die eingeschlagenen Schaufenster der jüdischen Geschäfte sah, waren sie bei mir unten durch, denn so etwas macht man nicht!

„Ebenso hätte er mich im Gulag verschwinden lassen können“

Fühlten Sie keinen Patriotismus? Viele junge Deutsche, die damals in den Krieg zogen, glaubten ja daran, das Vaterland zu verteidigen?

Meissner: Nein, patriotisch war ich nie. Ich kämpfte nicht für Deutschland, sondern weil mir keine andere Wahl blieb. Ich kämpfte um mein Leben und für das meiner Kameraden. 

Spielte es für Sie keine Rolle, daß Deutschland bei einer Niederlage die Vernichtung drohte?

Meissner: Die Niederlage war für mich schon ausgemachte Sache. Denn Sie müssen bedenken, als ich an die Front kam, gab es nur noch Abwehrkämpfe und Rückzug. Einen Sieg, das war klar, würde es nicht mehr geben – und so ist es ja auch gekommen. 

Was ist mit Ihrer Heimat? 

Meissner: Ja, das war schrecklich, daß wir nach dem Krieg nicht mehr nach Landsberg zurückkonnten. Ich vermisse meine Heimat noch heute. Aber es war nicht zu ändern, und auch nach dem Krieg ging der Kampf ums Überleben ja weiter. Ein Jahr war ich auf einem Bauernhof in Aldenhoven bei Jülich, dann ging ich zu meinen nach Halle geflohenen Eltern und begann eine Ausbildung. Die ich aber abbrechen mußte, als ich äußerte, daß die hohen Preise in den neuen HO-Läden für einen Arbeiter- und Bauernstaat eine Schande seien, die sich Schwache, Schwangere oder Alte nicht leisten konnten. Später saß ich gar sieben Monate im Zuchthaus, weil ich Ersatzteile für Fernmeldetechnik aus West-Berlin eingeschmuggelt hatte. Auch machte ich nach dem Krieg doch noch eine schreckliche Erfahrung mit den Russen. Sie schnappten uns, als ich Leute über die grüne Grenze nach Westen führen wollte. Die Soldaten griffen sich die Frauen, und als ich eine verteidigte, schlugen sie mich mit Gewehrkolben schrecklich zusammen, daß ich blutete wie ein Schwein. Doch als ich anderentags vor einen Offizier geführt wurde, der mir vorwarf, einen Soldaten angegriffen zu haben, frage ich ihn, was er tun würde, wollten deutsche Soldaten seine Freundin vergewaltigen. Da ließ er die Anklage fallen und mich frei – unglaubliches Glück! Denn er hätte mich ebenso ins Gulag stecken können und ich wäre in Sibirien verschwunden. 

„Während wir verhungerten, spielten sie mit Brot Fußball“

Im Krieg selbst hatten Sie – jenseits der Kämpfe – dagegen keine schlechten Erfahrungen mit den Russen? 

Meissner: Mit der Bevölkerung gar nicht, ganz im Gegenteil. Und einmal half mir ein Sowjetsoldat sogar, der Gefangennahme zu entgehen – ich vermute, er war Ukrainer. Als uns die Russen aber auf dem Rückzug in Rumänien doch erwischten, stellten sie uns zum Erschießen an die Wand, legten an – lachten dann aber nur. Ihren derben Spaß machten sie aber wieder gut, indem sie uns anschließend einen Obstgarten plündern ließen. Und schon wenige Stunden später büxten wir aus. Anders bei den Amerikanern, von denen ich dachte, sie würden Gefangene an sich besser behandeln. Stattdessen raubten sie mich erstmal komplett aus. Dann landete ich in den berüchtigten Rheinwiesenlagern, wo 160.000 deutsche Soldaten monatelang unter freiem Himmel, ohne sanitäre Anlagen und ausreichende Verpflegung zusammengepfercht wurden. Ich entsinne mich einer Tagesration aus je einem Löffel Milchpulver und getrockneter Karotte sowie einer großen Kartoffel, natürlich roh, für zwei Mann! Es gab zwar auch Tage mit besserer Ration, dennoch starben die Männer dort wie die Fliegen. Viele verhungerten, andere gingen an Entkräftung oder Krankheiten zugrunde. 

„Sorge, weil der jungen Generation fehlt, was uns stark gemacht hat“

Die USA führen ins Feld, daß es nicht möglich war, so viele Männer, die sich zugleich ergaben, zu versorgen. 

Meissner: Mag sein, aber dann hätten sie uns gehen lassen sollen. Der Krieg war aus, wir hatten kapituliert und waren geschlagen und entwaffnet keinerlei Gefahr mehr. Stattdessen aber sahen sie zu, wie Zigtausende von uns verreckten. Als die Bevölkerung uns Lebensmittel bringen wollte, nahmen die Amerikaner sie ihnen ab, kippten sie in ein Erdloch und schütteten es zu. Oder sie spielten Fußball mit Brotlaiben, während wir verhungerten. Am Ende versuchte ich in meiner Verzweiflung sogar Gras zu essen. Bis heute rühre ich nichts Amerikanisches an, weil ich seitdem etwas gegen Amerikaner habe. Mit einer Ausnahme: den Schwarzen, die waren gut zu uns. Denn, so sagten sie und zeigten dabei auf die Weißen, „unsere deutschen Kriegsgefangenen-Ärsche und ihre Nigger-Ärsche“ säßen im selben Boot. 

Wie sind Sie mit all dem nach dem Krieg zurechtgekommen?

Meissner: Ich habe das mit mir selbst ausgemacht, da ich nie jemand war, der viel darüber geredet hat. Nach dem Krieg hatten wir nichts mehr, nicht einmal mehr eine Heimat. Erst mußte man am Leben bleiben, die Hungerwinter überstehen und dann wieder aufbauen. Ich denke manchmal, mein Gott, was wir ertragen mußten! Und die Jugend heute jammert, weil sie zu viel arbeiten muß und nicht genug Party machen kann. Ich habe Sorge, daß diese Generation – der alles zu fehlen scheint, womit wir uns durchgebissen und unter all den Trümmern wieder hervorgearbeitet haben – das, was wir hier aufgebaut haben, nicht wird halten können. 

Interessiert sich die Jugend für Ihre Erlebnisse?

Meissner: Nein, ich bin jetzt hundert und fast meine ganze Generation ist tot, alle die mich noch verstanden haben. Zwar habe ich eine Tochter und Enkeltochter, aber sie kennen meine Welt nicht mehr. Ich bin im Grunde sehr einsam. Oft denke ich an all die Verstorbenen und meine vielen gefallenen Kameraden, die im Krieg geblieben sind. Es wird Zeit, daß auch ich gehe. 


Foto: Deutsche Soldaten suchen Schutz in einem Graben (Raum Jassy/Rumänien, 1944): „Keiner von uns hätte geglaubt, daß für einige von uns das Leben bereits in wenigen Wochen vorbei sein würde. Mit 17 Jahren kann man sich das nicht vorstellen“


Foto: Landser an der Ostfront (Karelien, März 1942): „Ich habe die Realität des Krieges in ihrer äußersten Brutalität kennengelernt. Sie zu ertragen half die Kameradschaft, die etwas Großartiges ist und macht, daß man sich trotz Grauen und Angst wie zu Hause fühlt“


Foto: Beisetzung der sterblichen Überreste deutscher Gefallener in Kartonsärgen in Halbe 2017: „Ich mußte lernen, meine Kameraden sterben zu sehen“



Kurt Meissner wurde 1924 in Landsberg an der Warthe im (nach 1945 von Polen annektierten) Osten der preußischen Provinz Brandenburg geboren. Der ehemalige Gefreite (links, 1944) der 153. Infanteriedivision lernte in der DDR Fernmeldemonteur, später im Westen „Wassermeister“ und war zuletzt technischer Leiter des Wasserwerks Warendorf bei Münster.