Die Freude von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) über den Beschluß des Bundeskabinetts zum Wehrdienst am Mittwoch vergangener Woche währte nur kurz. Am Abend zerbrach nach monatelangem Streit die Ampelkoalition und damit auch die Aussicht, daß der Gesetzentwurf zu seinen Plänen für eine Ausweitung des Wehrdienstes zeitnah vom Bundestag beschlossen wird.
Dabei sind sie ein wichtiger Baustein, um die Bundeswehr im Zuge der von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufenen Zeitenwende auf die neuen sicherheitspolitischen Gegebenheiten in Europa einzustellen. Denn neben einsatzfähigem Material in ausreichender Zahl mangelt es der Truppe seit der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 auch an Soldaten. Im September sank die Zahl der aktiven Soldaten wie bereits im Vormonat erneut, wie aus den ebenfalls am vergangenen Mittwoch von der Bundeswehr veröffentlichten Zahlen hervorgeht. Dadurch rutschte die Truppenstärke unter die wichtige Marke von 180.000 Soldaten. Besonders bedenklich ist, daß der größte Rückgang ausgerechnet bei den freiwillig Wehrdienstleistenden verzeichnet wurde.
Genau hier setzen die Pläne des Verteidigungsministers an: Pistorius will mit seinem Konzept für einen neugefaßten Wehrdienst die Zahl der Wehrdienstleistenden und damit auch die Zahl der Reservisten deutlich erhöhen. Das ist notwendig, damit Deutschland seinen Beitrag zu den nach dem Angriff Rußlands auf die Ukraine deutlich ausgeweiteten Verteidigungsplänen der Nato erfüllen kann. „Der deutsche Beitrag zur Bündnisverteidigung erfordert langfristig einen Verteidigungsumfang von insgesamt rund 460.000 Soldatinnen und Soldaten. Ein großer Teil davon, nämlich rund 260.000, muß aus der Reserve aufwachsen können“, rechnet Pistorius vor. Ein Blick in die Statistik zeigt, wie groß hier der Handlungsbedarf ist: Derzeit gibt es rund 60.000 fest eingebundene Reservisten in der Bundeswehr.
Um das zu ändern, sollen künftig junge Männer und Frauen bei Erreichen des wehrfähigen Alters, also in der Regel mit 18 Jahren, einen Online-Fragebogen der Bundeswehr ausfüllen, in dem unter anderem nach der körperlichen Fitneß und der grundsätzlichen Bereitschaft zum Wehrdienst gefragt wird. Für Männer wird es verpflichtend sein, den Fragebogen auszufüllen, sonst droht ein Bußgeld. Für Frauen „und andere Geschlechter“ (so das Verteidigungsministerium) ist die Teilnahme freiwillig. Die Fragebögen werden anschließend von der Bundeswehr ausgewertet. Auf dieser Grundlage sollen dann geeignete Kandidaten zur Musterung eingeladen werden. Ziel ist es, auf diesem Weg 5.000 zusätzliche Kandidaten für den Wehrdienst zu gewinnen.
Wehrüberwachung wieder ermöglichen
Derzeit verfügt die Bundeswehr über etwa 15.000 Plätze für die Ausbildung freiwillig Wehrdienstleistender, von denen aber meistens nur 10.000 von Freiwilligen besetzt werden. Durch die direkte Ansprache der jungen Männer und Frauen erhoffen sich die Planer einen entsprechenden Zuwachs an Freiwilligen. Parallel dazu soll die Ausbildungskapazität der Truppe schrittweise erhöht werden.
Im Vergleich zu seinen ursprünglichen Plänen hat Pistorius bei den Verhandlungen mit den (ehemaligen) Koalitionspartnern Abstriche an seinem Konzept für einen neuen Wehrdienst machen müssen. So war ursprünglich eine für alle Männer verpflichtende Musterung vorgesehen, wie sie etwa in Schweden üblich ist. Diese Forderung war aber insbesondere bei der FDP auf Widerstand gestoßen.
Der Verteidigungsminister verbreitet dennoch Optimismus: „Das Gesetz zum Neuen Wehrdienst ermöglicht uns, die Wehrerfassung wieder zu installieren, die es seit Aussetzung der Verpflichtung zum Grundwehrdienst 2011 nicht mehr gibt. Wenn es morgen zum Verteidigungsfall käme, wüßten wir nicht, wen wir einziehen könnten, weil es keine vollständige Datengrundlage gibt“, sagte der SPD-Politiker der Deutschen Presse-Agentur. „Mit der Aussetzung des Wehrdienstes sind Wehrerfassung und Wehrüberwachung zerschlagen worden, obwohl der Staat gesetzlich dazu verpflichtet ist.“
Dies würde sich mit dem neuen Gesetz wieder ändern. Zwar werden die mit deutscher Gründlichkeit nach 2011 abgewickelten Verwaltungseinrichtungen für die Wehrpflicht, die Kreiswehrersatzämter, nicht neu aufgebaut. Künftig soll es der Bundeswehr aber ermöglicht werden, alle für eine Wehrpflicht erforderlichen Informationen von den Meldebehörden zu erhalten. Das ist wichtig, da die Wehrpflicht nach wie vor lediglich ausgesetzt ist und im Spannungs- oder Verteidigungsfall sofort automatisch wieder in Kraft tritt. Mit dem neuen Gesetz würden (wieder) die nötigen Voraussetzungen geschaffen, die Wehrpflicht in einem solchen Fall auch tatsächlich umsetzen zu können.
Am Montag deutete sich allerdings das vorläufige Aus für die Wehrpflicht-Pläne von Boris Pistorius an. „CDU/CSU wollen eine echte Wehrpflicht und keinen unverbindlichen Fragebogen“, sagte der stellvertretende Fraktionschef der Union, Johann Wadephul, der dpa und wies darauf hin, daß die Union dem in der vergangenen Woche vom Kabinett beschlossenen Gesetzentwurf mit der rot-grünen Minderheitsregierung im Parlament nicht zustimmen wird. „Die Bedrohungslage durch Rußland und die Personalnot der Bundeswehr machen Verpflichtungsmodelle nötig“, sagte Wadephul zur Begründung. Deutschland sollte ähnlich wie in Skandinavien zunächst alle mustern und dann diejenigen heranziehen, die wehrdiensttauglich sind und ihre Bereitschaft signalisieren.