© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/24 / 15. November 2024

„Schluß mit den Eiertänzen“
Interview: Eine Regierungskrise ist die Stunde der Opposition! Was muß aus Sicht der AfD jetzt getan werden und welche Chancen bietet ihr die vorgezogene Neuwahl des Bundestages? Antwort gibt Partei- und Frktionschefin Alice Weidel
Moritz Schwarz

Frau Dr. Weidel, was muß eine neue Bundesregierung jetzt tun?

Alice Weidel: Eine Regierung, die Deutschland wieder nach vorne bringen will, muß erstens den Bürgern die unerträgliche Steuer- und Bürokratielast von den Schultern nehmen: Verbrennerverbot, Heizungsdiktat, CO2-Abgabe, Lieferkettengesetz und andere Bürokratiemonster abschaffen, Einkommen-, Konsum- und Unternehmenssteuern drastisch senken und im Gegenzug unsinnige und ideologisch motivierte Staatsausgaben zusammenstreichen. Sie muß zweitens die ökosozialistische „Transformations“-Planwirtschaft beenden und mit einer ideologiefreien Energiepolitik, Wiedereinstieg in die Kernkraft eingeschlossen, die Energiekosten senken. Drittens muß sie die Migrationswende ausrufen und die destabilisierende Massenmigration beenden, durch Grenzschließungen, Rückführungen und die Beseitigung der sogenannten „Pull“-Faktoren für illegale Migration in die Sozialsysteme.

Und wird all das die voraussichtliche neue Regierung Merz ab März 2025 tun? 

Weidel: Derzeit tun Merz und die Union das genaue Gegenteil: Sie ziehen im Bundestag eigene Anträge zurück, die auf einzelne dieser Maßnahmen zielen – und die sie im übrigen weitgehend von der AfD abgeschrieben haben, weil diese Initiativen nach dem Ende der Koalition tatsächlich eine Mehrheit bekommen könnten, und zwar auch mit den Stimmen der AfD. Damit ist im Grunde schon alles gesagt über die Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit der Unions-Ankündigungen: Wer sich auf Friedrich Merz verläßt, der ist schon verlassen!

Mit welcher Koalition wird er Ihrer Vermutung nach überhaupt regieren?

Weidel: Friedrich Merz versteckt sich mutlos hinter der „Brandmauer“, mit der Grüne und Linke die Unionsparteien in den Käfig gesteckt und ihr jede nicht-linke Machtoption verbaut haben. Herr Merz biedert sich schon wieder bei den Grünen an, Herr Söder dagegen hätte lieber eine Neuauflage von Schwarz-Rot. Nach allen Umfragen ist die AfD zweitstärkste Kraft im Land, sie wird bei der kommenden Bundestagswahl ein starkes Ergebnis einfahren. Ein großer Anteil der Wähler will die AfD in der Regierungsverantwortung sehen. Wenn Herr Merz diesen Wunsch des Souveräns ignoriert und statt dessen in der ersten Jahreshälfte ein mühsam ausgehandeltes wackeliges Mehrparteienbündnis bastelt, das ihn zum Kanzler wählt, wird so eine Koalition kaum stabiler als die Ampel sein. Eine Politikwende wird es mit einer unionsgeführten Linkskoalition auch nicht geben. Wer CDU wählt, bekommt grüne Politik. 

Gewählt wird Stand jetzt am 23. Februar. Ist das für Sie der richtige Termin? 

Weidel: Das ganze Gezerre und Geschachere um den Wahltermin ist doch unwürdig. Herr Scholz hat das Vertrauen der Bürger schon lange verloren, jetzt hat er auch keine Mehrheit im Parlament mehr. In einer solchen Situation gebietet es der Anstand, unverzüglich die Vertrauensfrage zu stellen. Herr Scholz demonstriert mit seiner selbstgefälligen Taktiererei Geringschätzung gegenüber dem Parlament und dem Souverän, also den Bürgern dieses Landes. Daß die von einer großen Mehrheit der Deutschen dringend erwarteten Neuwahlen wieder zum Gegenstand von parteitaktischem Hickhack und Machtgerangel gemacht und mit allen möglichen kleinlichen und vorgeschobenen Argumenten zerredet wurden, ist ein verheerendes Signal der selbstbezogenen Abgehobenheit, mit dem die Bürger abermals vor den Kopf gestoßen werden.

Bundeswahlleiterin Ruth Brand hat in einem Brief an den Kanzler vor Chaos gewarnt, sollte er sich auf einen Neuwahltermin vor März einlassen, da dann eine ordnungsgemäße Vorbereitung der Bundestagswahl nicht möglich sei. Ist das für Sie glaubhaft? 

Weidel: Was die Hintergründe dieses ominösen Briefes sind und ob er womöglich auf Bestellung aus Kanzleramt oder SPD-Zentrale so geschrieben wurde, wird noch aufzuklären sein. Unser Land macht sich mit solchen Manövern lächerlich, das Ausland spottet schon wieder über uns. Die Krise ist da, die Regierung hat abgewirtschaftet, also muß schnellstmöglich neu gewählt – und vor allem nach der Neuwahl das Votum der Bürger auch respektiert werden!

An der Bremer Bürgerschaftswahl 2023 konnte die AfD nicht teilnehmen, weil sie trotz regulärer Vorbereitungszeit keine gültige Liste hatte. Ist die Partei überhaupt in der Lage, für den Termin 23. Februar alle Listen ordnungsgemäß aufzustellen? 

Weidel: Bei einer Bundestagswahl wissen alle, worum es geht. Mehrere Landesverbände haben die Landeslisten zur Bundestagswahl auch schon aufgestellt oder ihre Parteitage für die nächsten Wochen schon organisiert. Natürlich ist es eine Herausforderung, in kürzester Zeit alle erforderlichen Kandidatenaufstellungen durchzuführen. Aber wir sind dieser Herausforderung gewachsen.

Bei der Bundestagswahl wird die AfD wohl hinzugewinnen. Aber wie sieht es danach aus? Tatsächlich hat Ihnen die Ampel-Politik drei Jahre lang Wähler zugespült. Ist damit aber unter einer Regierung Merz nicht vielleicht Schluß? Ja, droht nicht, sollte Herr Merz eine vernünftigere Politik machen und so bezüglich des Unmuts der Bürger etwas Druck aus dem Kessel nehmen, daß sie Wähler verlieren? 

Weidel: Herr Merz verspricht vollmundig eine vernünftigere Politik – daß er sie auch tatsächlich umsetzen wird, bezweifle ich. Wo die Union richtige Forderungen erhebt, hat sie diese zum großen Teil bei der AfD abgeschrieben. Sie will sie aber gar nicht umsetzen, sondern lediglich die Wähler täuschen. Der CDU-Chef ist nicht bereit, den grünen Käfig der „Brandmauer“ zu verlassen und mit der Merkel-Zeit zu brechen: Die „beste Kanzlerin, die die Grünen je hatten“ bestimmt noch immer über ihre Zöglinge unter den CDU-Granden die Richtlinien der Unionspolitik. Von den grünen Utopieprojekten, die für den Niedergang Deutschlands eine Hauptverantwortung tragen – „Energiewende“, E-Mobilität und „Klimaschutz“ – will sich die Union nicht abwenden. Solange sich Friedrich Merz und die Union hinter der von Linken und Grünen oktroyierten „Brandmauer“ verschanzen, ist mit ihnen kein Neuanfang in der deutschen Politik zu machen. Einen Neustart für Deutschland, der unser Land wieder nach vorne bringt, kann es aber nur ohne SPD und Grüne geben.

Mag sein, aber trotzdem wird die AfD – während aller Voraussicht nach die Union ins Kanzleramt einzieht – bleiben, wo sie ist: in der Isolation. Im letzten Interview mit dieser Zeitung 2021 haben Sie erklärt, die Strategie sei, zu warten, daß es „in den nächsten zwei Legislaturperioden zu einer Regierungsbeteiligung in einem ostdeutschen Bundesland kommt“. Halten Sie daran immer noch fest?  

Weidel: Die Wähler entscheiden am Ende, was möglich und realistisch ist. Die sogenannte „Brandmauer“ zerfällt längst von unten, von der Basis her. Dieser Prozeß hat sich seit den letzten drei Landtagswahlen im Osten sogar noch weiter beschleunigt. Das ist ja gerade das Positive an der Demokratie: Die Durchsetzung des Wählerwillens kann zwar mitunter für eine gewisse Zeit gebremst und verlangsamt, aber letztendlich kann sie nicht verhindert und gestoppt werden. Wir stehen zu unserer staatspolitischen Verantwortung und sind zum Gespräch und zur Zusammenarbeit mit allen konstruktiven Kräften bereit. Wir wollen für Deutschland arbeiten und Verantwortung übernehmen.

Was steckt Ihrer Ansicht nach hinter dem Gespräch Ministerpräsident Michael Kretschmers mit dem sächsischen AfD-Chef Jörg Urban: Erster Haarriß in der Brandmauer oder wollte Kretschmer dem BSW nur zeigen: ich könnte ja auch anders? 

Weidel: Dieses Gespräch ist ein weiteres deutliches Indiz dafür, daß die „Brandmauer“ auf Dauer nicht zu halten ist. 35 Jahre nach dem Mauerfall ist es höchste Zeit, daß auch diese spalterische und undemokratische Mauer fällt.

Außer der Bundestagswahl am 23. Februar steht 2025 eigentlich nur noch die Wahl zur Hamburger Bürgerschaft am 2. März an. Oder wird es auch noch Landtagsneuwahlen geben? 

Weidel: Das ist durchaus im Bereich des Möglichen. Seit Monaten führen die etablierten Parteien absurde Eiertänze auf, um die AfD von der Macht fernzuhalten, obwohl im Osten ein Drittel der Wähler hinter ihr steht und sie in mehreren Ländern stärkste Kraft ist. Stabile Regierungen werden auf diese Weise nicht zusammenkommen. Die Etablierten werden lernen müssen, daß der Wille der Wähler auf Dauer nicht ignoriert werden kann. Die Stunde für eine AfD-Landesregierung rückt näher!

Könnte Ihnen da nicht das BSW einen Strich durch die Rechnung machen, falls es bei Neuwahlen weiterzulegt: Mit welcher Entwicklung der Partei rechnen Sie? 

Weidel: Der Fokus Frau Wagenknechts ist eindeutig die Bundestagswahl, das steht bei ihr absolut im Vordergrund. Wie sich das BSW als stark auf eine Person fixiertes Projekt entwickelt und ob es auf Dauer angelegt ist, wird sich zeigen. Es ist eine genuin sozialistische Partei, programmatisch gibt es kaum Überschneidungen zu Inhalten und Zielen der AfD. Wo aber das BSW auf unterschiedlichen Wegen zu Forderungen kommt, die wir für richtig halten, unterstützen wir diese selbstverständlich.

Wer Ihnen außerdem Konkurrenz machen möchte, ist die FDP. Sie liegt zwar derzeit nur bei (je nach Umfrageinstitut) drei bis fünf Prozent. Könnte ihr aber die Entlassung aus der Regierung nicht nützen und sie bis 23. Februar wieder Prozente gutmachen? 

Weidel: Drei Jahre lang hat die FDP unter dem Vorwand, „Schlimmeres“ zu verhindern, praktisch jeden links-grünen Unsinn mitgemacht: Deindustrialisierung, Rekordverschuldung, ökosozialistische Planwirtschaft, Zensurgesetze, Meldestellen, Genderwahn und das eben in Kraft getretene „Selbstbestimmungsgesetz“, das unter Androhung drakonischer Strafen die Leugnung biologischer Tatsachen erzwingen will. Die FDP und ihre Minister haben das alles nicht nur mitgetragen, sondern durch ihre Regierungsbeteiligung überhaupt erst möglich gemacht. Von diesem Makel werden sie sich so schnell nicht wieder erholen.

Wann hätte die FDP die Ampel (spätestens) verlassen müssen und warum hat Sie es Ihrer Ansicht nach nicht getan?

Weidel: Sie hätte in diese Koalition gar nicht erst hineingehen dürfen! Herr Lindner ist in dem Moment falsch abgebogen, als er seine Maxime aus den Jamaika-Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl 2017 in ihr Gegenteil verkehrt und nach dem Motto „Lieber schlecht regieren als gar nicht“ den Koalitionsvertrag mit SPD und Grünen unterzeichnet hatte. Dafür wird die FDP bei der kommenden Bundestagswahl zu Recht bitter vom Wähler bestraft werden.

Wie interpretieren Sie denn den Bruch der Ampel: Hat Lindner diesen vorsätzlich provoziert? Wollte er rausgeworfen werden? Oder plante er die Koalition selbst zu verlassen, doch der Kanzler kam ihm zuvor? 

Weidel: Offenbar gab es auf dem sinkenden Koalitionsdampfer einen regelrechten Wettlauf um das letzte Rettungsboot. War dabei der eine schneller als der andere? Darüber zu spekulieren ist letztlich müßig.

Frau Dr. Weidel, in der jüngsten Ausgabe des konservativen Magazins „Cato“ sagen Sie im Interview, daß Sie das Programm der AfD nicht als politisch „rechts“ betrachten. In der Tat ist es eigentlich eher liberal. Aber warum war Ihnen diese Klarstellung wichtig? 

Weidel: Mit überkommenen Begriffspaaren wie „links“/„rechts“ lassen sich die großen Konfliktlagen unserer Zeit nur noch unvollkommen beschreiben. Der eigentliche Prüfstein ist doch: Stehen wir auf der Seite der Freiheit – der persönlichen, bürgerlichen, politischen und unternehmerischen Freiheit – oder sollen Staatsinterventionismus, Planwirtschaft und Gängelung die Oberhand behalten? Unser Parteiprogramm ist im Kern freiheitlich, es richtet sich an alle, die kollektivistische Ideologien ablehnen und für ein Gemeinwesen eintreten, das auf der Grundlage von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und der Achtung bürgerlicher Rechte errichtet ist. 



Dr. Alice Weidel wird die AfD als Kanzlerkandidatin in den Bundestagswahlkampf führen. Gemeinsam mit Tino Chrupalla ist sie Bundessprecherin der Partei und Chefin der Fraktion im Bundestag, die sie – zunächst noch mit Chrupallas Vorgänger Alexander Gauland – seit 2017 führt. 2022 rückte sie auch in den Parteivorsitz auf. Zuvor leitete sie von 2020 bis 2022 den Landesverband Baden-Württemberg. Geboren 1979 in Gütersloh, beriet die Betriebs- und Volkswirtin Unternehmen und internationale Organisationen für Goldman Sachs und war im Vorstandsbüro der Allianz Global Investors tätig.