© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/24 / 08. November 2024

Der Flaneur
An der Bahn gestrandet
Gil Barkei

Es ist einer dieser Orte, an denen man seit Jahren vorbeiläuft, ihn jedoch eigentlich gar nicht genau wahrnimmt. Aber jetzt hat mein Hund irgendwas in der Nase, die mit gesenktem Schlappohrenkopf über den Bürgersteig fegt. Ich folge ihm hinein ins Niemandsland zwischen Berliner Stadtautobahn und Wohnquartier. 

Früher standen hier schmucke Altbauten, einige selbst nach dem Krieg noch relativ gut in Schuß. Doch dann wurden sie weggesprengt, um Platz für die autogerechte Stadt zu schaffen – die Städtepartnerschaft mit der Highway-Metropole Los Angeles läßt grüßen. Verkehrstechnisch durchaus sinnvoll, architektonisch ein Graus.

Plötzlich schlägt der Hund an und läuft in ein wucherndes Gebüsch mit dem Charme einer Heroinspritze.

Rund um die breiten Fahrbahnen, diese Asphaltkolosse, haben sich vergessene mit Graffiti zugesprayte Betonnischen und schmale wilde Grünflächen gebildet, die seit einiger Zeit zunehmend verdrecken. Und die sich wie ein Geschwür langsam auf die angrenzenden Wohnblöcke ausbreiten. An der Straßenecke stapeln sich leere Farbeimer, Klamotten und Sperrmüll. Ein alter Brückenaufgang für Fußgänger eine Autobahnauffahrt weiter – früher fuhren hier sogar Doppeldeckerbusse – trägt bei den Anwohnern längst den Spitznamen „größte öffentliche Toilette Berlins“. Zusammen mit einem benachbarten abgerockten Parkhaus, in dem regelmäßig Schrottkarren illegal abgestellt werden, muß der „Lost Place“ immer wieder für Videodrehs von deutschen Gangsterrappern herhalten. 

Plötzlich schlägt der Vierbeiner an, zieht mich bellend in ein wucherndes Gebüsch mit dem Charme einer benutzten Heroinspritze, bis wir schließlich vor einem rauchend kauernden Mann stehen, der anscheinend gerade aus einem kleinen Zelt gekrabbelt kam. Halbwegs „gemütlich“ hat er es sich hier im vor Sicht schützenden Geäst gemacht, auf einer gespannten Wäscheleine lüftet ein Schlafsack. Dahinter steht ein zweites Zelt.

Melancholisch ziehe ich mich mit einem knappen verduzt-undefinierbaren „Guten Morgen“ zurück. Ich muß an den Obdachlosen denken, der kürzlich beim Zeitungsverkauf von den Notunterkünften erzählt hatte: „Alles voll mit Osteuropäern. Die klauen alles, was du nicht am Mann trägst. Am liebsten gehe ich da gar nicht mehr hin, viel zu gefährlich.“ Am schlimmsten seien „die Tschetschenen“, berichtete er. „Die rauben dich aus, drohen mit Messern und schlagen einen zusammen.“



Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer.

Aischylos, griechischer Dichter (525 v. Chr.–456 v. Chr.)