Mit Blick auf die Demokratie, die von linksorientierten Leitparteien dominiert wird, ist Identitätspolitik ein derzeit kontroverses Thema. Während die einen Identitätspolitik für die Sichtbarkeit benachteiligter Gruppen hervorheben, sehen andere in ihr eher ein Instrument der Spaltung und Polarisierung. Karsten Schubert lehrt Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin und nimmt mit seinem Buch in diesem Spannungsfeld eine klare Position ein: Eine dosierte Zufuhr von Identitätspolitik soll dazu beitragen, die immer brüchigere Demokratie zu heilen. Reifer und konstruktivistischer soll diese bitte werden. Und diese neue Form würde die früheren identitären Verhärtungen überwinden. Die Schaffung von Gruppenidentitäten soll ein strategisches Mittel sein, um benachteiligten Gruppen Gehör zu verschaffen. Solche Gruppen seien notwendig, um einen oberflächlichen Universalismus zu hinterfragen, der tatsächlich nur die Privilegien der Eliten stützt. Schubert ordnet seinen Ansatz der radikalen Demokratietheorie zu und glaubt, daß es lediglich an einer durchdachten Anwendung von Identitätspolitik fehle, um zur Demokratie Adenauers, Kohls oder gar noch Merkels – ihren Anfangszeiten – zurückzufinden.
Man kann sich schon denken, wohin die Reise geht. Schubert läßt den Vorwurf, Identitätspolitikvertreter würden willkürlich über Gut und Böse entscheiden, unberücksichtigt. Die in den Medien oft berichteten Fälle von sogenannten Cancel-Aktionen betrachtet er als Einzelfälle, die durch ständige Wiederholung künstlich aufgeblasen wurden und bei näherer Untersuchung substanzlos seien. Einen Beleg hierfür bekommt der Leser nicht. Was ist mit der vielzitierten Debatte rund um die Einschränkung der Meinungsfreiheit? Das Buch verläßt die Realität. Denn diese Cancel-Fälle sind nicht nur eindeutig belegt, sie nehmen auch zu, wie es tagtäglich Medien und Behörden beweisen, indem die Identität von Tätern bewußt unbenannt bleibt. Der Autor scheint sich jedoch weniger für die tatsächliche gesellschaftliche Situation zu interessieren als für seine Sicht der Dinge. Fundierte Fallrekonstruktionen und Belege fehlen. Am Ende beweist Schubert auf jeden Fall, daß er als Philosoph in seiner eigenen Welt lebt, in der Blase seiner Bücher mit festgefügten Theorien, während die Welt da draußen eine andere ist.
Schlußendlich bleibt Schubert etwas boomerhaft, wie Jugendliche es heute nennen würden. Er bleibt dem traditionellen Muster des Empfindens und Verurteilens treu und hofft offenkundig auf ein „Comeback“ der Identitätspolitik, die wahrhaftig gute Absichten hatte. Im vergangenen Jahrhundert, wie man aus heutiger Sicht sagen muß.
Karsten Schubert: Lob der Identitätspolitik. Verlag C.H. Beck, München 2024, broschiert, 223 Seiten, 20 Euro