Das Jahr 1989 ist geschichtsträchtig. Jahrelanger Unmut, innere Emigration, subtiler und offener Widerstand wie auch die Enttäuschung über immer massiver werdende Grenzsicherungen und abgelehnte Anträge auf ständige Ausreise führten in der ehemaligen DDR zu friedlichen Massenprotesten, denen die Führung hilflos gegenüberstand, zumal die Signale aus der Sowjetunion keine Hilfe erwarten ließen, um die Proteste niederzuschlagen.
In Ungarn hingegen versuchte die kommunistische Partei den schon lange vor 1989 aufkeimenden Freiheitswillen, der aus geschichtlicher Erfahrung im kollektiven Bewußtsein des ungarischen Volkes stark verankert ist, aufzunehmen, um ihn mehr oder weniger geschickt im Sinne der Parteiideologie zu lenken. Während die Parteiführung der SED keinen Hauch eines Unrechtsbewußtseins oder Unwohlseins wegen der blutigen Niederschlagung des Aufstandes von 1953 erkennen ließ, nagten an der kommunistischen Führung Ungarns, insbesondere am langjährigen Parteivorsitzenden János Kádár, die Ereignisse in der Folge des ungarischen Aufstandes vom Oktober 1956. Schließlich war er es, der 1958 auf Geheiß Moskaus den nach der Niederschlagung des Aufstandes durch das militärische Eingreifen der Sowjetunion amtierenden Ministerpräsidenten Imre Nagy und etliche seiner Mitgenossen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion umbringen und sie – man kann es nicht anders ausdrücken – wie räudige Hunde anonym verscharren ließ.
Imre Nagy war geneigt, dem Ruf der Bevölkerung nach freien Wahlen nachzugeben, und er forderte den Abzug der sowjetischen Militärs und der sowjetischen Kontrolle. Dazu war die Sowjet-union bei weitem nicht bereit. Das belegt auch ihr militärisches Eingreifen in der Tschechoslowakei, um die Unruhen und Aufstände 1968 niederzuschlagen. Damit fand auch der Reformkurs („Prager Frühling“) unter dem damaligen Ersten Sekretär der kommunistischen Partei, Alexander Dubček und dem Wirtschaftsreformer Ota Šik ihr Ende.
Zunehmende Aggressivität gegen die eigene Bevölkerung entwickelt
In Polen gab es von 1956 bis 1980, dem Jahr des Beginns der Solidarność-Bewegung, immer wieder Aufstände, die schließlich – vor allem auf Druck Moskaus – zur Ausrufung des Kriegsrechts (Dezember 1981 bis Juli 1983) führten. Das schien dem damaligen Präsidenten, General Wojciech Jaruzelski notwendig, weil er ahnte, daß ein Eingreifen Moskaus unweigerlich zu einem Blutvergießen führen würde.
Vor diesem Hintergrund stellt Zsuzsa Breier in einer Art zeitlichen Synopse Ereignisse, Entwicklungen und Maßnahmen sowie Stimmungen in der Bevölkerung über weite Teile des Buches einander gegenüber, die sowohl für die ehemalige DDR wie auch für Ungarn prägend waren. Die wiedergegebenen Gespräche, Niederschriften, Ereignisse, Fluchtversuche, Äußerungen von Politiker und vieles andere mehr erforderten einen immensen Aufwand an Quellensuche, der kaum zu ermessen ist.
Auffällig ist, daß diese Gegenüberstellungen kaum direkte Verbindungen oder gar Absprachen erkennen lassen. Es scheint, als ob sich der Freiheitswille der Bevölkerungen orts- bzw. staatsunabhängig, aber zeitgleich über die Jahre hinweg Bahn gebrochen hat. Allerdings hielten die Parteiführungen an den sozialistischen bzw. kommunistischen Zielen fest, auch wenn die Reaktionen auf den Widerstand der Bevölkerung unterschiedlich ausfallen. In den Ausgaben der JUNGEN FREIHEIT vom 18. und vom 25. Oktober 2024 weisen Ludwig Witzani und Thorsten Hinz darauf hin, daß abgewirtschaftete Regierungen und schwache Staaten eine zunehmende Aggressivität gegen die eigene Bevölkerung entwickeln und zu nackter Gewalt greifen. Das gilt insbesondere für die ehemalige DDR. Es ist erschreckend zu lesen, daß das Ministerium für Staatssicherheit und die politische Führung bis weit ins Jahr 1989 am Schießbefehl festhielten und über die Jahre hinweg einen unglaublichen Aufwand betrieben, um die Grenze immer unüberwindbarer zu machen.
Ebenso erschreckend ist die Blauäugigkeit bundesdeutscher Politiker. So etwa der damalige schleswig-holsteinische Ministerpräsident Björn Engholm, der die DDR-Medien lobte. Um es etwas überspritzt zu sagen: Während man die Schüsse an der Grenze im Westen noch hören konnte, ließen sie sich von Erich Honecker ein ums andere Mal anlügen, daß es keinen Schießbefehl gäbe. Auch der oft gelobte politische Spürsinn von Wolfgang Schäuble ließ ihn im März 1989 im Stich, als er feststellte, daß er vorerst keinen Weg zur Wiedervereinigung sähe, und daß das Regime der DDR nicht vor dem Zusammenbruch stehe.
In Ungarn stellte sich die Situation anders dar. Zwar war es auch dort lebensgefährlich, die Grenze zum Westen illegal zu überschreiten, allerdings blieben die Maßnahmen, um die Grenze immer unüberwindbarer zu machen, weit hinter denen der DDR zurück. Selbst Instandhaltung und Reparaturen unterblieben. Schließlich war der damalige Ministerpräsident Miklós Németh – nach Rückversicherung mit Michail Gorbatschow – die treibende Kraft beim Abbau des Grenzzaunes, weil der überschuldete Staat die Kosten einfach nicht mehr schultern konnte.
Beide Staaten ähneln sich in der irrsinnigen Zahl von Geheimdienstmitarbeitern, wobei es scheint, daß der ungarische Geheimdienst verstärkt auf Künstler und Schriftsteller einwirkte, weil er vermutete, daß sie auf lange Sicht einen nachhaltigeren Einfluß auf die Bevölkerung haben als andere Gruppen, während das Ministerium für Staatssicherheit alle Bereiche gleichermaßen im Blick hatte. Es scheute auch nicht davon zurück, inoffizielle Mitarbeiter in Ungarn einzusetzen, und zwar nicht nur, um DDR-Urlauber, sondern auch um die ungarndeutsche Minderheit und sogar ungarische Bürger zu bespitzeln.
Der vielschichtige ungarische Reformprozeß in Ungarn ist durch zwei Hauptströmungen gekennzeichnet. Zum einen geht es um Rehabilitation der 1958 ermordeten Reformpolitiker und zum anderen um den Versuch, für eine neu ausgerichtete kommunistische Partei in freien Wahlen Mehrheiten zu gewinnen. Die Neuausrichtung akzeptierte das Christliche, das Europäische und das Nationale, was zuvor bei den kommunistischen Internationalisten als rotes Tuch galt.
Der auf den ersten Blick etwas irritierende Titel „1989 – Das Jahr beginnt“ ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Alle vorangegangenen Entwicklungen – Aufstände, Reformvorschläge sowie brutale Unterdrückungen – mündeten über Jahre hinweg schließlich in das Jahr 1989. Das Buch dokumentiert nicht nur den Reformwillen der Nationen, der endlich autoritäre Staaten scheitern ließ, sondern gibt auch Anlaß darüber nachzudenken, ob die derzeitigen politischen Entwicklungen nicht in etlichen Jahren zur Niederschrift eines ähnliches Buches führen könnten.
Prof. Dr. Siegfried F. Franke lehrte Volkswirtschaft an der Universität Stuttgart und ist Gastprofessor an der Andrássy Universität Budapest.
Zsuzsa Breier: 1989. Das Jahr beginnt. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2023, gebunden, 467 Seiten, 45 Euro
Foto: Die Außenminister Österreichs und Ungarns, Alois Mock (l.) und Gyula Horn, durchschneiden am 27. Juni 1989 den „Eisernen Vorhang“ bei Ödenburg: Instandhaltung war zu kostenintensiv