Regeln sind dafür da, daß sie gebrochen werden. Das gilt selbstredend auch für Weinregeln. Sie stimmen natürlich trotzdem. Es ist beispielsweise wahr, daß viele Weißweine zu kalt und viele Rotweine zu warm getrunken werden. Während es einem schlechten Weißwein noch guttun mag, wenn er zu kalt serviert wird, ist zu warmer Roter immer von Übel. Scheuen Sie sich niemals, im Lokal einen Eiskübel zu ordern, wenn Ihnen das zugemutet wird. Denn – wir kommen zur Regel Nummer eins – Wein ist ein Erfrischungsgetränk. Das gilt auch für den Roten. „Der Trinkende blickt Gott frischer ins Angesicht“, schrieb Goethe im „West-östlichen Divan“. Kein Wein erfrischt mehr als der deutsche Weißwein, insbesondere der Riesling.
Es gibt einen globalen Trend weg vom Wein als Erfrischungsgetränk. (Es gibt auch einen Trend weg vom Wein – die Puritaner 2.0 nennen den Göttertrank „Alkohol“ –; den lasse ich heute unerörtert.) Dieser Trend hängt mit der Erderwärmung zusammen. Bei einem zickigen Gewächs wie der Rebe führt bereits ein Anstieg von einem Grad Celsius zu eminenten Auswirkungen. Das Resultat ist vor allem eine merkliche Zunahme des Alkoholgehalts. Ein Wein mit 15 Prozent Alkohol ist naturgemäß kein Erfrischungsgetränk mehr. Es ist heute leider normal, daß ein roter Bordeaux mit 14 Prozent auf die Flaschen gezogen wird, sogar deutsche Spätburgunder erreichen solche Werte.
Die Weine aus der Neuen Welt (darf man das noch sagen?) strotzen ebenso vor Volumenprozenten wie die herrlichen Südfranzosen aus dem Languedoc oder von der Rhone. Mich – mir ist ausdrücklich erlaubt worden, in diesem Artikel in der Ich-Form zu sprechen – würden Sie daran erkennen, daß da einer vor dem Weinregal unentwegt die Flaschen umdreht, um auf die Prozente zu schauen. Irgendwo um die 14 Alkoholprozent passiert etwas mit dem Rebsaft, und er verwandelt sich vom Muntermacher in ein Narkotikum. Der Trinker wird nicht mehr illuminiert, sondern sediert.
Zu hohe Temperatur führt außerdem zu Säureabbau, womit bei deutschen Weißweinen die typische Frische auf dem Spiel steht. Setzt sich das Prinzip früher Austrieb, frühe Blüte, frühe Lese fort, drohte der Paradesorte des hiesigen Weinbaus, dem Riesling, eine Art Diabetes: Er wird überreif, breit und „fett“. Schon heute schmecken viele Rieslinge aus dem Rheingau nicht mehr stählern, sondern wie Drops. Die rieslingtypische Liaison aus Frucht und Säurespiel braucht einen sonnigen Frühherbst und vor allem kühle Nächte. Wenn die Mostgewichte weiter zulegen, keltern die Kellermeister statt frischer, feinfruchtiger Kabinettweine üppige Spät- und Auslesen mit 13 Volumenprozent Alkohol und mehr. Die schon jetzt seltene Eisweinlese – die Trauben werden bei mindestens sieben Grad minus in gefrorenem Zustand gekeltert, so daß nur der konzentrierte Nektar aus der Presse läuft – könnte dagegen eines Tages völlig ausfallen.
Der Chardonnay-Rebe, der zweiten Königin des Weißweins, macht die Erwärmung nichts aus, an der Côte-d’Or werden nach wie vor prachtvolle Puligny-Montrachets und Chablis reifen. Im Bordelais indes stehen vor allem die Merlot-lastigen Châteaus – darunter einige der berühmtesten der Welt – vor Problemen; der Cabernet Sauvignon, die zweite typische Rebsorte der Region, kommt mit Wärme sehr gut zurecht.
Der Klimawandel verändert die europäische Landkarte des Weinbaus. Bacchus’ fröhliches Reich breitet sich nach Norden aus. Die Rebsorten wandern ebenfalls gen Norden. Wein von erwähnenswerter Qualität gedieh lange nur zwischen dem 40. und 50. Breitengrad. Heute stehen Rebstöcke in Südengland – man muß korrekterweise sagen: wieder; Wein wuchs dort schon im Mittelalter. 2014 wurde erstmals Weinbau aus Schottland vermeldet. Im norwegischen Kristiansand, am 58. Breitengrad, wächst seit 2009 Riesling. Wird die elitärste deutsche Weißweinrebe ihre Zukunft im nördlichen Exil verbringen? Schon möglich, aber der Boden, zum Beispiel der typische Schiefer an der Mosel, kann nicht mitwandern. Deswegen sei hier der zweite Merksatz eingestreut: Terroir schlägt Rebsorte.
Der Weiße soll Tageslicht sehen, der Rote nur künstliches Licht
In den südlichen Anbaugebieten wandern die Rebstöcke auf der Suche nach kühleren Lagen in die Höhe. In Nordspanien ist der Weinbau auf 800 Metern angelangt, südafrikanische Winzer gehen noch höher. In österreichischen und deutschen Weinregionen fassen Sorten Fuß, die bisher vor allem im Süden gediehen: konzentrierte Syrahs, die normalerweise südlich von Lyon reifen, tanninstarke Cabernet Sauvignons, wie sie in Bordeaux oder in Übersee gekeltert werden. Bis an die einst kühle Ahr bauen experimentierfreudige Erzeuger Cabernet Franc und Cabernet Sauvignon an, mitunter mit Mostgewichten, von denen mancher Bordeaux-Winzer träumen kann. Bei den Weißen breiten sich speziell Chardonnay und Sauvignon Blanc immer mehr gen Norden aus. Von Tirol bis Sachsen laufen verwegene Experimente mit für diese Breitengrade ehedem als exotisch geltenden Rebsorten.
Nie hatten Weintrinker eine größere Auswahl als heute. Nie hatten sie auch eine größere Auswahl an deutschen Weinen als heute. Das hängt zum einen mit der Migration neuer Rebsorten zusammen, zum anderen mit einer bemerkenswerten Qualitätssteigerung bei den Roten – deutscher Weißwein gehört ja seit je zur Weltspitze. Vor allem der Spätburgunder, das deutsche Pendant zum französischen Pinot noir, ist in den vergangenen zwei, drei Dekaden immer besser geworden. Keine faden Tränklein für regionale Seniorenpartys mehr, sondern Tropfen mit Charakter, Finesse und Wumm. Einige der besten kommen vom Kaiserstuhl: Bercher, Johner, Dr. Heger etwa. Allerdings – das ist rebsortentypisch – bildet dieser Wein nur wenig Tannin, was für viele Vinophile, zu denen ich mich zähle, ein Grund ist, andere Sorten zu präferieren, so sehr ich den typischen Ledergeruch eines deutschen Spätburgunders mag.
Beim Weißen aber bin ich Patriot. Wieder ist ein Merksatz fällig, der dritte: Der Weiße soll Tageslicht sehen, der Rote, ungefähr wie der Smoking, nur künstliches Licht. Hier werden vor allem Franzosen widersprechen, die gern schon zum Lunch einen Roten picheln. Aber ein frischer, kühler Weißwein, mittags im Sommer auf einer schattigen Lokalterrasse verputzt, hat etwas Paradiesahnendes.
Und welcher Weiße soll es sein? Das Faß des am besten mit der jeweiligen Speise harmonierenden Tropfens können wir nicht auch noch aufmachen, es geht ums Picheln. Unter den traditionellen deutschen Rebsorten die unterschätzteste ist die Scheurebe; nie hat ein Dichter eine Ode auf sie gesungen. Ein unverdientes Mauerblümchendasein führt auch der Gewürztraminer. Natürlich Grau- und Weißburgunder. Und immer wieder Riesling. Ich bin gehalten, ein paar Erzeuger zu nennen, die Auswahl ist völlig subjektiv. Also: Bürklin-Wolf (Pfalz). Müller-Catoir (Pfalz). Fritz Haag (Mosel). Maximin Grünhaus (Mosel). Franz Künstler (Rheingau). Siener (Pfalz; es gibt derer zwei, ich meine den in Birkweiler).
Wein ist ein Grundnahrungsmittel, man muß auf den Preis schauen
Derzeit trinke ich mich durch das Sortiment von Markus Molitor (Mosel) – ich spreche nicht von der „Wehlener Sonnenuhr Riesling Trockenbeerenauslese Goldene Kapsel“ 2013, die für 4.500 Euro pro Flasche gehandelt wird, sondern von seinen normalen Rieslingen, die bei zwölf Euro anfangen und traditionell produziert sind, feinherb bis trocken und mit Alkoholgehalten von zehn bis elf Prozent. Die Prozente sind wichtig, denn wer will schon nach einer Flasche Schluß machen? Goethe, der dies selten tat, trank immer leichte Weißweine. Explizit empfehlen muß ich noch das Weingut Zimmerling in Sachsen, dessen Namensgeber nicht nur einen phantastischen Stoff keltert, sondern ihn obendrein auf die wahrscheinlich schönsten Flaschen der Weinwelt zieht.
Alle Winzer, die ich empfohlen habe, bieten ihren Rebsaft überwiegend im unteren bis mittleren zweistelligen Bereich feil. Vor ein paar Jahren löste der SPD-Politiker Peer Steinbrück, damals designierter Kanzlerkandidat, wohlfeile Empörung aus, weil er erklärte hatte, daß er einen Pinot Grigio „für nur fünf Euro“ nicht kaufen würde. Zeitungskommentatoren kritisierten damals tatsächlich, für ihn sei die Weinauswahl wohl eine Frage des Preises. Ja, was denn sonst? Der Sozi hatte völlig recht, einen Wein für fünf Euro kann man nicht trinken. Für einen genießbaren Weißwein sind mindestens acht, eher zehn Euro fällig. Einen wirklich guten deutschen Grauburgunder – Pinot Grigio ist Grauburgunder – bekommt man nicht im einstelligen Bereich. Bei Rotwein muß man noch ein bißchen drauflegen.
Der Sinn der Weinkennerschaft besteht nicht darin, einen Chateau Margaux oder einen Riesling „Brauneberger Juffer Sonnenuhr Auslese Lange Goldkapsel“ von Fritz Haag großartig zu finden – das kann jeder Esel –, sondern im Segment zwischen zehn und fünfzig Euro, je nach Anlaß, fündig zu werden. Ich weigere mich, beim Wein die prosaische Formulierung Preis-Leistungs-Verhältnis zu verwenden, aber etwas ist dran. Wein ist nämlich, vierter und für heute letzter Merksatz, ein Grundnahrungsmittel. Da muß man also auf den Geldbeutel schauen. Und sich trotzdem nichts andrehen lassen.
Der Gegentrend zur erfreulichen Vielfalt der Rebsäfte ist nämlich der zum Welteinheitsgeschmack. Die Marketingabteilungen der Großproduzenten wollen den Konsumenten deren Vorstellung vom idealen (und preiswerten) Wein abgelauscht haben. Wein ist das einzige Lebensmittel, das seine Zusatzstoffe, vom Sulfit abgesehen, nicht deklarieren muß. Die Kellermeister setzen Enzyme, synthetisch hergestellte Hefen, Mannoproteine und andere „Hilfsstoffe“ ein, um Duft, Farbe und Geschmack gezielt zu beeinflussen und Fehltöne zu eliminieren. Die steigenden Alkoholgehalte gleichen sie durch die Zugabe von Tanninen, die mehr Struktur suggerieren, geschmacklich aus, und dergleichen mehr. „Kellerweine“ ersetzen „Weinbergsweine“. Solche Weine werden einander immer ähnlicher – und langweiliger.
Seien Sie also wählerisch, suchen Sie das Besondere, mißtrauen Sie den allzu gefälligen, geschminkten, charakterlosen, uniformen Tropfen. Ein Wein, den man Ihnen mit dem Attribut „fruchtig“ andreht und dem man sein Herkunftsland nicht abschmeckt, taugt allenfalls zum Kochen. Santé!
Michael Klonovsky, Jahrgang 1962, ist Publizist und passionierter Weinliebhaber.
www.klonovsky.de