© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/24 / 08. November 2024

Sendbote der Meinungsfreiheit
Größter epischer Dichter Englands: Eine Hommage an den für eine republika-nische Staatsform eintretenden Denker John Milton
Heinz-Joachim Müllenbrock

Als John Milton vor 350 Jahren starb, war er politisch noch verfemt, aber literarisch bereits auf dem Weg zu dauerhaftem Ruhm. Sein dafür ausschlaggebendes Epos „Paradise Lost“ war in seiner endgültigen Fassung noch 1674 im Jahr seines Todes erschienen.

Wie sein Hauptwerk bestätigt, darf Milton von seiner geistigen Provenienz her als Erbe der Renaissance bezeichnet werden. Sein intimes Verhältnis zum Altertum, die Tendenz zum ptolemäisch-platonischen Weltbild, die Weiterführung der rhetorischen Tradition und sein ornamentaler Stil lassen es angebracht erscheinen, in Milton den Höhepunkt und Abschluß der englischen Renaissance zu erblicken. 

Miltons Berufung zum Dichter war eng mit dem Bestreben verknüpft, in moralisch-erzieherischer Hinsicht auf seine Landsleute einzuwirken. Sein Dichtertum bedeutete keinen Rückzug in einen elfenbeinernen Turm, sondern – im Gegenteil –die hochgespannte Selbstverpflichtung öffentlichkeitswirksamen Schaffens. Dazu bot sich auf literarischer Ebene das Epos als die öffentliche Gattung schlechthin an. Die politische Entwicklung in England nötigte Milton allerdings dazu, seine dichterischen Pläne zurückzustellen. 

In dem seit 1642 offen ausbrechenden englischen Bürgerkrieg, dem Konflikt zwischen Königstreuen und Anhängern des Parlaments, stellte sich Milton von Anfang an auf die Seite der Aufständischen gegen den hochkirchlich gestützten Stuart-Absolutismus. Dieses Engagement sollte sich in einer zwanzigjährigen publizistischen Tätigkeit niederschlagen. Der schon in den Cambridger Studientagen aufmüpfige Milton, der das autoritäre Kirchenregiment von Erzbischof William Laud haßte, wurde dessen wichtigster öffentlicher Gegenspieler. Der diktatorischen Praxis Lauds, der kirchliche Gerichtshöfe wieder einsetzte und die Nonkonformisten unerbittlich verfolgte, trat Milton in mehreren auf Gewissens- und Meinungsfreiheit pochenden Pamphleten energisch entgegen.

Milton wendet sich gegen Zensurbestimmungen

Miltons publizistisches Glanzstück ist „Areopagitica“(1644). In dieser „Speech for the Liberty of Unlicensed Printing“, wie es im Untertitel heißt, wuchs Milton in die Rolle des Freiheitsapostels und Erziehers seiner Nation hinein. Die Anklage gegen ihn wegen der unberechtigten Veröffentlichung seiner ersten Ehescheidungsschrift nahm er zum Anlaß für ein großangelegtes Plädoyer für ungehinderte Denk- und Gewissensfreiheit. Die Problematik menschlicher Wahrheitsfindung seit der Antike tief auslotend, wendet er sich gegen die von der englischen Regierung neu in Kraft gesetzten, von der Römischen Inquisition herrührenden alten Zensurbestimmungen und plädiert für uneingeschränkte Verbreitung von Druckerzeugnissen, die Gottes Willen entspreche, den Menschen als vernunftbegabtes Wesen seine Ansichten frei bekunden zu lassen. Milton setzt auf den freien Markt der Meinungen, auf dem sich „our richest merchandise, truth“, behaupten werde. 

In der von Miltons unbändigem Freiheitswillen durchdrungenen Schrift wurden zum ersten Mal die modernen liberalen Prinzipien der Pressefreiheit formuliert. Im gegenwärtigen Deutschland, wo man von staatlicher Seite mit allerlei vorgeblich demokratischen, in Wirklichkeit autoritär-repressiven Maßnahmen die Meinungs- und Gedankenfreiheit an die Kandare nehmen will, hätte „Areopagitica“ aufmerksame Leser verdient. 

Nach dem Sieg der Rebellen entpuppte sich Milton als militanter puritanischer Revolutionär. Ab 1649 als Sekretär für die diplomatische Korrespondenz zuständig, wurde er von dem neuen Machthaber Oliver Cromwell mit der Aufgabe betraut, dessen radikale politische Maßnahmen vor aller Öffentlichkeit zu rechtfertigen. In dem prompt ausgearbeiteten Traktat „The Tenure of Kings and Magistrates“ (1649) und nachfolgenden lateinischen Streitschriften wie „Defensio pro Populo Anglicano“ (1649) trat Milton für die Rechtmäßigkeit der ganz Europa empörenden Hinrichtung König Karls I. ein. Milton stellte sich in den Dienst des von Cromwells Commonwealth, weil er hoffte, daß in einem reformierten England ein Gottes Willen entsprechendes Reich gegründet werden könnte. Allerdings enttäuschte Cromwell, der sich 1653 zum „Lordprotektor“ aufschwang, Miltons Erwartungen durch die Errichtung einer Militärdiktatur.

Die Wiederherstellung des Königtums mit der Restauration der Stuarts im Jahr 1660 war für den nunmehr geächteten Milton, der sogar in Lebensgefahr schwebte, aber von den neuen Machthabern glimpflich behandelt wurde, eine abgrundtiefe Enttäuschung. Miltons unerschütterliche Gottesgläubigkeit konnte sich jetzt nur noch in einer Verlagerung des Himmelreiches auf Erden in das puritanischen Denkgewohnheiten entsprechende Innere des Menschen bekunden. In dieser Verinnerlichung der Erfahrung des Heiligen unterscheidet sich der Puritanismus sowohl vom Katholizismus als auch von der anglikanischen Kirche. Miltons Spätwerke „Paradise Regained“ (1671) und „Samson Agonistes“ (1671) setzen die in „Paradise Lost“ offenbarte Verinnerlichung fort.

Der Miltons literarische Existenz tief berührende politische Umschwung der Restaurationsära brachte es mit sich, daß nur noch das christliche Heilsgeschehen ein seinen dichterischen Ambitionen angemessenes Thema abgeben konnte. Während die ihn desillusionierende Nationalgeschichte – er hatte zunächst, wie Spenser, an ein Artus-Epos gedacht – verpönt war, konnte er mit der Hinwendung zur Heilsgeschichte seine innersten Überzeugungen in einem großen poetischen Entwurf artikulieren. Nachdem Torquato Tasso in seinem Kreuzzugsepos „La Gerusalemme Liberata“ (1581) noch weltliches und religiöses Thema miteinander verschmolzen hatte, arbeitete Milton in „Paradise Lost“, dem bedeutendsten religiösen Epos der Weltliteratur, einen rein religiösen Handlungsplan aus. 

Die Lektüre des Epos ist eine intellektuelle Herausforderung

Der strukturell zentrale Gedanke des als Theodizee angelegten Epos ist das theologische Paradoxon der felix culpa (glücklichen Schuld), des Sündenfalls als einer Schuld, die die Güte Gottes herausfordert und so das Heil des Menschen vollendet. Die Tragödie Adams ist damit auch eine Göttliche Komödie, in der sich der Vorsatz des epischen Sängers erfüllt, „ [to] justify the ways of God to men“, wie es am Ende des Eingangspassus heißt.

Die literarische Realisierung seines epischen Vorwurfs erfolgt in Miltons gezieltem Wettstreit mit dem antiken Epos. Vergils „Aeneis“ bietet die Vergleichs- und Kontrastfolie, vor der Miltons kompositorische Anlehnung an Vergil, aber auch seine thematische Differenzierung von diesem hervortreten. Während Vergils Epos mit der Formel „Arma virumque cano“ („Waffentat singe ich und den Mann …“) beginnt, weist „Paradise Lost“ mit der anfänglichen Bezugnahme auf Christus als „one greater Man“ auf das Heilsgeschehen voraus, mit dem sich Milton von den kriegerischen Heldentaten der „Aeneis“ abhebt. Dieser gehaltliche Überbietungsgestus schlägt sich auch darin nieder, daß an die Stelle von Vergils einem Helden Aeneas in „Paradise Lost“ zwei Helden treten, der sündig gewordene Mensch Adam und Christus.

Auch in ästhetischer Hinsicht bildet die „Aeneis“ den maßgeblichen Referenzrahmen. Milton ersetzte die Hexameter des lateinischen Textes durch einen fünfhebigen Blankvers. Diesem verleiht er durch langgezogene Perioden, mythologische Verweise, klangvoll-suggestive Aneinanderreihung von historisch evokativen Namen und weit ausgreifende epische Vergleiche poetischen Glanz.  

Seine stilistische Eigenwilligkeit, wie sie bereits exemplarisch in dem Eröffnungspassus von „Paradise Lost“ zutage tritt, wo er sich souverän über die übliche Syntax hinwegsetzt, macht die Lektüre dieses Epos schon rein sprachlich zu einer intellektuellen Herausforderung.

Der theologische Gehalt von Miltons großem Epos konnte als allgemein akzeptiert gelten. Sein Handlungsplan stimmte mit der religiösen Mehrheitsmeinung überein. Schließlich deutete der Umstand, daß der an sich streitfreudige Milton die zugespitzte Erörterung traditionell strittiger Fragen wie etwa derjenigen des Verhältnisses von Gnade und guten Werken vermied, darauf hin, daß er um breiten theologischen Konsens bemüht war. 

Dennoch hat Milton einen die Nachwelt irritierenden Zankapfel hinterlassen. Es handelt sich um die Gestalt Satans, der aufgrund seiner textlichen Prominenz, die bereits im ersten Buch mit dem Engelsturz beginnt, in gewisser Weise als dritter Held neben Christus und Adam bezeichnet werden könnte. Der quantitativen Gewichtung dieser Figur entspricht deren qualitative Ausstattung. Vor allem in den ersten beiden Büchern werden Satans Revolte und seine bei aller Erniedrigung unbeugsame Energie so bewegend und mitfühlend gestaltet, daß die theologisch eindeutig positiv besetzten himmlischen Leitfiguren dagegen blaß wirken. Die von Satan ausstrahlende Faszination beruht nicht zuletzt auf seinem intellektuellen Format, wie es sich in seiner brillanten Rhetorik niederschlägt, so etwa im Höllenrat, wo er die gefallenen Engel auf Rache gegen Gott einzuschwören sucht. 

Miltons sympathisierende Bewunderung Satans und seine innere Beteiligung an dessen Schicksal berechtigen zu der Annahme, daß der Autor seinem tragischen Lebensabschnitt als gescheiterter puritanischer Revolutionär in seinem wichtigsten Werk ein immerwährendes Gedenken bewahren wollte. 

An Satan, der faszinierendsten Gestalt dieses Epos, scheiden sich bis heute die Geister. Während der eingefleischte Tory Dr. Johnson den puritanischen Revolutionär nicht ausstehen konnte, sah der revolutionäre Romantiker William Blake in dem tragisch gedeuteten Satan den heimlichen Helden und meinte, daß Milton, ohne es zu wissen, der Partei des Teufels angehört habe.

Er rühmt die Schönheit von Gottes freier Natur

Daß die gegen die explizite theologische Richtschnur verstoßende, von Bewunderung begleitete Profilierung Satans gewisse Ambivalenzen in der Sympathielenkung nach sich zieht, läßt sich sogar auf dem Höhepunkt des Epos in der Darstellung des Sündenfalls beobachten. In der Verführung der Unschuld Evas müßte Satan eigentlich als teuflischer Bösewicht erscheinen. Doch dadurch daß Satan, der sich in eine Schlange verwandelt hat, Eva mit raffinierter Rhetorik weiszumachen versteht, daß sie Gott gleich werden kann, wenn sie den Apfel ißt, erhält die niederträchtige Tat Satans gewissermaßen einen Hauch von intellektueller Anerkennung. 

Der freiheitsliebende Milton hat nicht mehr miterleben können, wie sein Name für die auch der Idee politischer Freiheit huldigenden Protagonisten des englischen Landschaftsgartens einen fast heiligen Klang annahm. Dieses geistige Band beruht auf Miltons Beschreibung des Paradieses im vierten Buch von „Paradise Lost“. Darin rühmt er die Schönheit von Gottes freier Natur, die er mit der Künstlichkeit des formalen Gartens französischer Provenienz kontrastiert.

Dieser Text wurde so einflußreich, daß er Milton einen festen Platz in den Schriften der publizistischen Sekundanten des englischen Landschaftsgartens eintrug; sein Name sollte bei keinem der maßgeblichen Autoren fehlen. Das die Freiheit der Natur feiernde Gesamtkunstwerk Landschaftsgarten hatte in dem die Freiheit des Menschen in allen Belangen postulierenden Milton einen kongenialen Wegbereiter. 

So ragte der Name Milton aufgrund seines grandiosen Epos nicht nur weiter in den literaturkritischen Diskurs hinein, sondern errang sogar einen Ehrenplatz in dem kulturgeschichtlich wichtigsten Projekt Englands im 18. Jahrhundert.

Foto: Der blinde John Milton diktiert seinen Töchtern das Gedicht „Paradise Lost“, Gemälde von Mihaly von Munkacsy, Öl auf Leinwand, 1878



Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über FürstLichnowsky (JF 44/23).