Der Mauerfall vor 35 Jahren war der Anfang vom Ende der deutsch-deutschen Teilstaatlichkeit. Zumindest auf der völkerrechtlichen Ebene; auf der mentalen und geistig-kulturellen Ebene hat sie sich fortgeschrieben und in der jüngsten Zeit sogar vertieft. Während der größere Teil, die sogenannte alte Bundesrepublik, die 1989/90 der Zielort des ungestümen östlichen Begehrens war, sich weiterhin für das Selbstverständliche, das natürlich Gegebene und Verbindliche hält, hat „der Westen“ sich in den Augen der „Ossis“ entzaubert. Mit ihrem Wahlverhalten und ihrem Vokabular zeigen sie an, daß es ihnen gleichgültig geworden ist, was er über sie, die Indigenen aus dem „Beitrittsgebiet“, denkt.
Das löst noch kein politisches Beben, aber seismische Schwingungen im gesamtdeutschen Staatsgehäuse aus, auf die sich vornehmlich Wissenschaftler und Publizisten aus der Ex-DDR einen Reim zu machen versuchen. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat in seinem Buch „Freiheitsschock“ mit Aplomb ein Geheimnis lüftet, das nie eines war: nämlich, daß die widerspenstigen Geister in der DDR eine Minderheit waren; die meisten standen hinter den Gardinen und warteten die Entwicklung ab. Viele dieser Opportunisten, ihre Kinder und Kindeskinder, meint Kowalczuk, hätten sich radikalisiert und gefährdeten die bundesdeutsche Reeducation und die freiheitlich-demokratische Grundordnung (siehe auch Porträt Seite 3).
Die Publizistin Ines Geipel versucht seit vielen Jahren, die „irre Gewaltlust“ im Osten und die Mentalitätsgeschichte des „Wastelands“ zu ergründen, was sie in den Medien zur vielgefragten Ost-Expertin macht („Zeugin der Anklage“ (JF 12/2023). Ihr neues Buch, „Fabelland. Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück“, bietet nichts Neues, es intoniert bloß ihr altes Lied. Wesentlich milder als Geipel und Kowalczuk urteilt der Soziologieprofessor Steffen Mau in seiner Studie „Ungleich vereint“ und empfiehlt, die ost-westlichen Unterschiede als dauerhaft zu akzeptieren. Er wirbt um Verständnis für die Transformations- und Veränderungsmüdigkeit im Osten. Damit alles beim alten bleibe, müsse sich freilich einiges ändern. Zur Integration der Ostdeutschen in den altbundesrepublikanischen Demokratiebetrieb empfiehlt er die Einrichtung von Bürgerräten.
Alle drei argumentieren rein instrumentell, das heißt, sie hinterfragen weder den Zustand des Landes noch die Qualität des politisch-medialen Komplexes, der selbiges zielsicher gegen die Wand fährt. Mindestens wenn die Innenministerin und der Chef des Inlandsgeheimdienstes gemeinsam das Delikt der vermeintlich verfassungsschutzrelevanten „Delegitimierung des Staates“ in die Welt setzen, dann sollten Verteidiger von Demokratie und Freiheit mit Spezialwissen über die DDR alarmiert sein und sich an einschlägige Paragraphen aus dem Strafgesetzbuch des SED-Staates (Staatsverleumdung, Boykotthetze, öffentliche Herabwürdigung usw.) erinnert fühlen.
Was alle drei weiterhin außer Betracht lassen, ist die schlichte Tatsache, daß die Bundesrepublik, der die DDR 1990 beigetreten war, eine wesentlich liberalere, tolerantere, freigeistigere war. Die wachsende Distanz zu ihren Institutionen und Narrativen entspringt weniger einer Sehnsucht nach der verflossenen DDR, sondern man spürt ihren kalten Atem im Nacken, der diesmal aus dem Westen weht.
Während Geipel, Kowalczuk und Mau den offiziellen Diskurs bedienen, versuchen sich andere Autoren von ihm zu emanzipieren. So Katja Hoyer mit dem Buch „Diesseits der Mauer“ (Hoffmann und Campe, 1923). Die Historikerin Hoyer will der DDR-Geschichte, die von den „Siegern“, also vom Westen geschrieben wird, eine Alternativgeschichte aus interner Perspektive entgegensetzen, indem sie aufzeigt, daß es auch ein richtiges Leben im falschen gab. Allerdings stolpert der Leser immer wieder über absurde Verallgemeinerungen. So schreibt sie über die 1950er Jahre: „Im Gegensatz zu vielen späteren Darstellungen war die vorherrschende Stimmung innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung nicht von Ablehnung des Ulbrichtschen und Neid auf Adenauers System geprägt, sondern von Erleichterung und sogar Begeisterung.“ Natürlich herrschte Erleichterung, weil der Krieg zu Ende war und es wieder satt zu essen gab. Doch zwischen 1949 und 1961 zogen 2,8 Millionen DDR-Bürger in den Westen. Die „Begeisterung“ für Ulbricht hielt sich wohl in Grenzen.
Der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann beschreibt in seinem Bestseller „Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung“ (Ullstein, 2023) seine Erfahrung im akademischen Betrieb der Ex-DDR als die einer Kolonisierung und neuen Fremdbestimmung. Während heftig über alte SED-Seilschaften geschimpft wurde, implementierte der Westen seine eigenen Netzwerke, zu denen Ostdeutsche bis heute kaum Zugang haben.
Der inneröstliche Deutungskampf wird unterdessen mit harten Bandagen geführt. So hat sich Ilko-Sascha Kowalcuk die russische Übersetzung des Oschmann-Buches vorgenommen und festgestellt, daß der russische Titel rückübersetzt lautet: „‘Orks’ aus dem Osten. Wie der Westen das Bild des Ostens prägt. Das deutsche Szenario“. Orks sind gräßlich häßliche, vormenschliche Wesen; die Ukrainer benutzen das Wort heute für die Russen. Wo Oschmann von „Putins Krieg“ schreibt, wurde das Attribut gestrichen. Die Differenz zwischen Original und Übersetzung wurde von den Medien sofort aufgegriffen und genutzt, um das Buch und seinen Autor nachträglich zu skandalisieren. Betrachtet man allerdings die Spiegel-Cover, auf denen Ostdeutsche karikiert werden, und liest man nach, was Systemhumoristen über sie verbreiten, dann ist „Orks“ dafür eine durchaus treffende Bezeichnung. Und „Putins Krieg“ ist letztlich ein sprachpolitischer Geßlerhut, unter dem die komplexe Vorgeschichte und geopolitischen Implikationen dieses furchtbaren Konflikts verschwinden sollen.
Alle Bücher haben eine Gemeinsamkeit: Sie sind auf die diskursive Übermacht des Westens fixiert, ohne deren politische Inhalte anzuzweifeln. Die einen arbeiten ihr zu, die anderen sich an ihr ab. In der Ablehnung von AfD und BSW sind die Autoren sich einig.
Doch ist diese Art und Weise, den innerdeutschen Ost-West-Konflikt fortzuschreiben, anachronistisch und lächerlich. Den Versuch, dem Anachronismus und der Lächerlichkeit auf den Grund zu gehen, unternimmt der promovierte Historiker und habilitierte Philosoph Jürgen Große mit den „diagnostischen Miniaturen“ in seinem (weniger marktgängigen) Buch „Der ewige Westen“.
Schon das Vorwort, das den elf Kapiteln vorangestellt ist, läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig; „Es ist ein längst nicht mehr historisch fixierbarer und politisch konkreter, sondern ein zusehends imaginärer Westen, der sich nur noch durch Sprechakte, durch Konstruktionen und Halluzinationen seines östlichen Anderen lebendig hält. Dieser ewige Westen existiert dank eines Ostens (…), von dem er sich ständig zu befreien hat.“ Ein Zombie also, der sich der Selbsterkenntnis und den Anforderungen, vor denen Deutschland heute steht, hartnäckig verweigert. Bis 1989/90 sei Bundesrepublik eine Kombination aus „D-Mark-Nationalismus mit weltpoltischem Abstinenzgebot“ gewesen und habe von einem materiellen und moralischen Kredit gelebt, den die westlichen Siegermächte ihr gewährten – und den die USA nun mit Zins und Zinseszins zurückfordern. Die Folgen der jahrzehntelangen „Suspension“ von staatlicher Selbstverantwortung hielten an: „Seit 1990 hatte der deutsche Westen zwischen den Extremen von moralischer Supermacht und materieller Seligkeitsinsel oszilliert; eine Wirtschafts- und Verfassungsnation, kein Nationalstaat.“
Das erinnert stark an die „Provinzialismus“-Glossen, die der Literaturwissenschaftler und langjährige Merkur-Herausgeber Karl Heinz Bohrer 1990/91 über die „winselnde Harmlosigkeit“ der Bonner Republik, deren wahres Staatssymbol die hechelnden, kichernden Mainzelmännchen gewesen seien, verfaßt hatte. Allerdings sprach aus Bohrers giftiger Kritik mehr ästhetische als politische Urteilskraft. Politisch verübelte er den Bundesdeutschen, daß sie sich nicht vorbehaltlos mit den Amerikanern identifizierten.
Dreißig Jahre später ist das ein Hauptkritikpunkt am „Anderssein“ der Ostdeutschen. Seit 2022 wird verstärkt am Bild eines „vermeintlich sowjet-russisch dauerinfizierten deutschen Ostens“ gebastelt, der „autoritär, nationalprovinziell, gewaltlüstern“ sei. Dagegen wird „ein imaginärer Weltläufigkeitsblock nordamerikanisch-westdeutsch-osteuropäischer Provenienz mobilgemacht (…) Die Front des Ossishasses reicht heute von der transatlantisch konvertierten Westlinken über versprengte ‘Antideutsche’ bis zu den CDU-Granden in Politik, Rüstung, Außenwirtschaft, die Konservatismus seit jeher als Konservierung westdeutscher US-Loyalität buchstabierten.“
Die medienkompatiblen Osterklärer aus dem Osten werden im Kapitel „Mitgelaufen. Der Fall Ines Geipel“ selber zum Gegenstand der Analyse. Geipel, eine nie ganz zum Zug gekommene ehemalige Spitzensportlerin der DDR, setze als Kind aus der „SED-Funktionärsbourgeoisie“ den „vormundschaftlichen Impetus ihres Herkunftsmilieus“ fort und finde darin mit einer bourgeoisen Westlinken zusammen, die sich nicht mehr durch Bildung oder Besitz abhebt, sondern durch „moralisches Symbolhandeln“. Gemeinsam verachten sie die „proletarischen Nachrücker in Konsum- und Freiheitsrechten“. Doch „Symbolhandeln“ ist keine rationale Politik. Wenn Kowalczuk schreibt: „In der Ukraine wird gerade entschieden, wie ‘1989’ ausgeht“, hat er recht, doch anders, als er meint.
Richten wir einen unsentimentalen Blick auf den Fall der Mauer. Ursächlich waren die Verschiebungen in der geopolitischen Tektonik, zu deren Stabilisierung sie 1961 errichtet worden war. Bis auf die DDR-Bürger waren am Ende alle mit ihr zufrieden gewesen. Auch die Bundesrepublik gewöhnte sich an sie, und für die West-Berliner brachte das Vierseitige Abkommen 1971 eine Normalisierung.
Das Bauwerk begann leise zu wanken, als Gorbatschow in der maroden Sowjetunion Reformen einleitete und die Kooperation mit dem Westen, speziell mit der wirtschaftlich potenten Bundesrepublik, suchte. Die DDR geriet zur Verhandlungsmasse. Die SED-Führung hatte jahrzehntelang in der Illusion gelebt, daß die kommunistische Ideologie eine unzerstörbare, übernationale Kampfgemeinschaft gestiftet hatte, anstatt anzuerkennen, daß sie unter Stalin zum Katalysator des russischen Imperialismus geworden war. Gorbatschow sah, daß das Imperium sich überdehnt hatte und lockerte die Zügel der Satellitenstaaten, was schließlich die Massenflucht von DDR-Bürgern über Ungarn ermöglichte. Sie war die wirkliche, die effektive revolutionäre Bewegung, denn sie delegitimierte den Staat nach innen und außen und demoralisierte den Partei- und Staatsapparat. Und dann waren alle: die Flüchtlinge, die Bürgerrechtler, selbst Gorbatschow, nur noch Schaumkronen auf dem geopolitischen Tsunami.
Heute ist die Tektonik wieder in Bewegung, und die Gefahr, zerrieben zu werden, ist offensichtlich. Ob das Konstrukt der „westlichen Wertegemeinschaft“ sich als fairer und belastbarer erweisen wird als die Chimäre der sozialistischen Staatengemeinschaft, ist zumindest zweifelhaft. Blindgläubigkeit kann Deutschland sich jedenfalls nicht leisten. Es ist an der Zeit, daß sich die Publizistik, die sich mit deutsch-deutschen Konfliktlinien beschäftigt, endlich auf die Höhe des Geschehens begibt.
Jürgen Große: Der ewige Westen. Wie ein Land nach sich selbst suchte und die alte Bundesrepublik fand. Das Neue Berlin, Berlin 2024, broschiert, 240 Seiten, 20 Euro
Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute. C. H. Beck, Stuttgart 2024, gebunden, 240 Seiten, 22 Euro
Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Ullstein, Berlin 2024, gebunden,224 Seiten, 19,99 Euro
Foto: Die Glienicker Brücke verbindet Berlin und Potsdam über der Havel: Quer über die Brückenmitte verläuft die Landesgrenze zwischen Brandenburg und Berlin bzw. die Stadtgrenze zu Potsdam. Am 10. November.1989 wurde die Brücke für den Verkehr zwischen Ost und West geöffnet. Zum 30. Jahrestag wurde dies gefeiert und durch eine Lichtinstallation in Szene gesetzt. Zur Zeit der deutschen Teilung erlangte die Glienicker Brücke weltweite Bekanntheit durch den am 11. Februar 1986 inszenierten dritten und letzten Agentenaustausch.