Vor wenigen Wochen überraschte Devlet Bahçeli, der Koalitionspartner von Präsident Recep T. Erdoğans AKP und Vorsitzender der nationalistischen Partei MHP, die Öffentlichkeit mit der Verkündung, daß der PKK-Führer Abdullah Öcalan freigelassen werde, wenn seine Partei den Kampf einstelle und sich im politischen System integriere. Die amerikanische Nachrichtenagentur Al-Monitor veröffentlichte Mitte Oktober weitere Details über die Verhandlungen, die Erdoğan mit Öcalan führt. Der kurdische AKP-Parlamentsabgeordnete Abdurrahim Semavi Temel legte detaillierte Angaben über die Verhandlungen der Vertreter der türkischen Regierung mit Öcalan an seinem Haftort, der Insel Imrali, offen.
Die Hauptforderung dabei ist die Entwaffnung der PKK, Abzug aus dem Gebiet der kurdischen Region im Irak und aus dem Einflußgebiet der Demokratischen Kräfte Syriens (kurdischen Rojava-Selbstverwaltung in Syrien; SDF), Einstellung der Verbindungen mit der kurdisch-syrischen Pro-PKK-Partei PYD/YPG mit den US-Streitkräften in Syrien sowie die Übergabe der Macht an die Roj-Peschmerga, also die syrisch-kurdische Truppe in der kurdischen Region des Irak.
Nicht alle Kurdenorganisationen sind mit dem PKK-Kurs zufrieden
Die PKK-Führung in den Kandil-Gebirgen in Irakisch-Kurdistan hat, wie aus informierten Kreisen bekannt wurde, bereits im Frühjahr 2024 auf die wiederholten Briefe von Öcalan nicht geantwortet. Die Führer der PKK, Cemil Bayik (Stellvertreter Öcalans), Murat Karayılan (PKK-Kommandant) und Mustafa Karasu, (Exekutivratsmitglied der KCK; Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) verlangten von Öcalan, Erdoğan möge Garantien abgeben und zwar vor der Waffenniederlegung. Die Beziehungen zwischen Öcalan und der jetzigen PKK-Führung erscheinen mehr als gespannt.
Der Anschlag vom 23. Oktober gegen die Turkish Aerospace Industries-Tusas von PKK-Kämpfern scheint primär gegen Öcalans Position gerichtet zu sein, um die Verhandlungen zum Scheitern zu bringen. Die für die Aktion verantwortliche Volksverteidigungfront YPG rechtfertigte den Anschlag mit dem Argument, daß die von Tusas hergestellten Waffen gegen die Kurden eingesetzt würden und daß der Anschlag nicht im Zusammenhang mit politischen Verhandlungen stehe, weil sie die Aktion vor längerer Zeit geplant hätten. Die PKK sieht in einer Erklärung vom 24. Oktober keinen Zusammenhang zwischen dem Anschlag mit den Verhandlungen. Diese hätten nach Ansicht der PKK eine reale Chance auf Erfolg, wenn der PKK-Führer freigelassen würde und selber in Freiheit den Frieden mitgestalten könnte. So erklärte Zübeyir Aydar, Mitglied des Exekutivkomitees der Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK, einer Dachorganisation der PKK), gegenüber BBC Turkish, daß „die Bedingungen für einen neuen Lösungsprozeß in der Türkei günstig“ seien.
Die Frage, die sich aufdrängt, bezieht sich auf den Zeitpunkt, in dem in der Region des Vorderen Orients mehrere Kriege geführt werden und die Türkei in der Nachkriegsordnung eine Rolle spielen will. Denn es scheint, daß Erdoğan die Bedingungen für eine aktive regionale Rolle der Türkei festschreiben möchte. Eine Regelung des Kurdenproblems hätte zur Folge, daß die Türkei freie Hand für die Realisierung ihrer Rolle in der Region hat.
Ankara war schon vor dem Krieg in Gaza bemüht, die Beziehungen mit dem Irak zu intensivieren. Es wurden tatsächlich Energieversorgungsverträge und Verträge über die Wasser-Ressourcen vereinbart. Zudem ist Ankara für eine maßvolle Rezentralisierung des politischen Systems im Irak bei gleichzeitigem Erhalt der Kurdenregion, die sich als stabiler Wirtschaftspartner der Türkei erwiesen hat. Auch einigten sich beide Staaten auf Maßnahmen gegen die PKK, so daß diese Organisation vom Irak aus gegen die Türkei nicht aktiv werden kann. Dieses Vorhaben ist aber kaum realisierbar. Der Iran, der die PKK als Verbündete in Syrien und dem Irak braucht, wird weiterhin seine schützende Hand über diese Organisation halten.
Gerade die Beziehungen mit Syrien bedürfen der Normalisierung. In einem Punkt könnten die beiden Staaten eine Einigung erzielen, nämlich die ablehnende Haltung gegen der SDF. Die Türkei hat einen Teil des Territoriums der SDF unter ihre Herrschaft gebracht und übt im Rest des Gebietes militärischen Druck aus, obwohl die USA die SDF als Verbündete unterstützen.
Dennoch soll Ankaras Strategie der Normalisierung auch in Syrien angewandt werden. Die politische Rezentralisierung und die Ablehnung der Föderalisierung Syriens ist Kern des türkischen Rezepts. Aber auch hier scheint es schwierig zu sein, die Legitimation des Staates, zumal unter Baschar al-Assad, wiederherzustellen. Weder die arabischen Sunniten in der Idlib-Region noch die Drusen im Süden, geschweige denn die Kurden, wünschen eine Wiederherstellung der zentralistischen Ordnung.
Ankara will auch neue Akzente in Irak und Syrien setzen
Der Iran und seine Milizen in Syrien können als eine weitere Hürde bei der Wiederherstellung Syriens gesehen werden. Sollte die PKK dem Erdoğan-Bahçeli-Plan zustimmen und Verbündete der Türkei werden, könnte sich ein anderes Szenario ergeben. Wenn der Iran seine Hegemonie im Irak nicht aufgibt und in Syrien sich die gleiche Konstellation ergibt, könnte die Türkei faktisch Nordirak und Nordost-Syrien zu ihrem Einflußgebiet erklären.
Ankara verbindet ambitionierte Projekte mit der Beilegung des Kurdenkonflikts. Ankara verfolgt die Errichtung einer Verbindung zwischen Asien und EU-Staaten (India-Middle East-Europe Corridor). Diese sogenannte Development Road, so erhofft sich Ankara, werde die Wirtschaft des Transitlandes Türkei dynamisieren. Auf der anderen Seite erhofft sich PKK-Führer Öcalan nach seiner 25jährigen Haft wieder die politische Bühne betreten zu können, um als Friedensheld gefeiert zu werden. „Ich habe die theoretische und praktische Macht, diesen Prozeß von der Basis des Konflikts und der Gewalt auf eine legale und politische Basis zu stellen, wenn die Bedingungen dafür gegeben sind“, erklärte Öcalan dem Abgeordneten der kurdischen Partei für Gleichheit und Demokratie der Völker (DEM), Ömer Öcalan, der ihn Ende Oktober im Gefängnis besucht hatte.
Prof. Dr. Ferhad I. Seyder war von 2012 bis 2019 Leiter der Kurdischen Studien an der Uni Erfurt. Seine neueste Veröffentlichung: „Between Diplomacy and Non-Diplomacy – Foreign relations of Kurdistan-Iraq and Palestine“, edited by Gülistan Gürbey, Sabine Hofmann, Ferhad Ibrahim Seyder. Verlag Palgrave Macmillan