© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/24 / 08. November 2024

„Geh doch rüber“
Zeitzeuge: Noch im November 1989 ging der damalige „Spiegel“-Reporter Matthias Matussek nach Ost-Berlin und begleitete den Weg zur deutschen Einheit. 35 Jahre nach dem Mauerfall reflektiert er hier seine Eindrücke
Matthias Matussek

Wir Deutschen sind heute das glücklichste Volk auf der Welt“, rief Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper vor dem Schöneberger Rathaus aus, nachdem am 9. November 1989 die Mauer gefallen war. Davon will eine Generation später niemand mehr etwas wissen, ja, der Internet-Papagei Chat GTP ordnet den Spruch auf Anfrage Joseph Goebbels zu, der ihn anläßlich der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 gesagt haben soll. Erst nach einer mahnenden Korrektur rückt er den Tag des Jubels 1989 heraus. Die Vergangenheit ist gelöscht und überschrieben.

Ja, der Mauerfall und die deutsche Einheit sind auch auf andere Weise überschrieben. Den deutschen Nationalfeiertag hat man auf den 3. Oktober verschoben, den Tag eines puren Verwaltungsaktes, der Unterzeichnung des Einheitsvertrages, um die Erinnerung an jenen fürchterlichen anderen 9. November 1938, die Reichsprogromnacht gegen die Juden, nicht zu tangieren.

Diese Schuld wird stets dringlicher beschworen, auch am Tag der Deutschen Einheit im Oktober. In diesem Jahr war auf Kundgebungen die schwarzrotgoldene Nationalfahne kaum zu sehen. Stattdessen gab es vom Bundeskanzler Wählerbeschimpfungen, weil sich ein Drittel bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg „für eine autoritäre und nationalradikale Politik“ entschieden haben, „für Populisten, die unsere freiheitliche Demokratie bekämpfen“. Das sei „verhängnisvoll“, so Olaf Scholz in seiner Rede am diesjährigen

3. Oktober.

Kurz: Das deutsche Einheitsglück ist hinterm Horizont verschwunden und wird verschämt entsorgt.

Als hedonistischer Westler nahm ich vieles als pures Elend wahr

Ich muß gestehen: Auch ich tat mich zunächst schwer, aus rein beruflichen Gründen. Ich war mit einer Reportage über ein schweres Erdbeben in San Francisco weitab vom Schuß des Geschehens hierzulande, und mir war klar, daß meine prächtige Reportage angesichts dieses anderen welthistorischen Bebens in den Papierkorb wandern würde.

Alle, besonders mein Ressortleiter Hellmuth Karasek, riefen mir nach meiner Rückkehr aus Kalifornien nach Hamburg zu: „Geh doch rüber“, was ein fernes Echo war jener Rufe der West-Berliner Bauarbeiter, die genau das den „revolutionären“ Studenten in den 1960er Jahren zuriefen, die ihre Sympathien für den Kommunismus auf dem Ku’damm herausschrien.

Ich ging rüber. Ich quartierte mich ein im Pa-lasthotel, einem Devisenkasten am Alexanderplatz, der billigeren Variante zum edlen Grand Hotel in der Friedrichstraße, das von den Stern-Kollegen frequentiert wurde. Das Grand Hotel bot Farne und tiefe Teppiche, das Palasthotel mit seinen Restaurants und Kantinen war eher die Bahnhofskaschemme. Hier trafen sich Hupsi und Pupsi, die Schwarzmarkthändler und Wendegewinnler.

Meine Suite 6101 hatte Blümchentapeten und ein rundes Bett. In der Etage genau darüber lag das Stasi-Überwachungszimmer. Ich gab mir also immer die größte Mühe im Bett. Mein Etagenkellner, der mir die Faxe der Redaktion brachte, – ja, Faxe waren das Kommunikationsmittel – hieß Thomas Brussig, der Romancier, der mich dann später, 1994, in seinem Roman „Wie es leuchtet“ als Großmaul mit schlechten Manieren verzeichnete, aber immerhin als eine Art Reporter-Genie beschrieb. Wir wurden Freunde.

Ich kannte Ost-Berlin, da ich in grauer Vorzeit an der Freien Universität im Westen studiert hatte. Die Stadt mit ihren düsteren zerschossenen Häuserruinen sah immer noch so aus, als seien die Kriegshandlungen gerade erst eingestellt worden. Bis auf die wuchtigen Plattenbau-Siedlungen, die den Untertanen ins Gesicht schrien: Du Wurm, komm uns in die Quere und wir zertreten dich. Gegenüber dem Palasthotel im Park standen die eisernen Riesen Marx und Engels und schauten in die Ewigkeit. Allerdings konnten sie niemanden mehr beeindrucken, die Angst war abgefallen von denen, die da vorbeiliefen.

Doch die Angst vor dem, was kommen würde, stieg ebenfalls, denn auch die Sicherheiten waren weggefallen, die kulturellen Geländer, und, in den obsolet gewordenen und kaputtsanierten Großbetrieben, die Arbeitsplätze für viele und damit die wirtschaftliche Grundlage.

In dieses Zwielicht stürzte ich mich hinein. Ich stürzte mich hinein in das, was ich, als hedonistischer Westler, als pures Elend wahrnahm. Zunächst panzerte ich mich mit einem ironischen Blick auf das völlig gescheiterte sozialistische Heilssystem. Im deutschen Museum der DDR-Geschichte wischte der Chef den Drang der DDR-Bürger nach Westen ab aus der historischen Adlersperspektive: „Det is ne janz normale Völkerwanderung, wie se immer wieder in der Geschichte vorkam.“ Allerdings stöhnte auch er über ahnungslose vorgesetzte „Tipsen“, eine Volte gegen Margot Honecker. 

Da hatte er die Entwicklung von der Urgesellschaft zum befreiten sozialistischen Menschen, die in der Museumsausstellung in das Arbeitszimmer des DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck (1876–1960) münden sollte, mustergültig aufgebaut. Und jetzt landete das alles umgekehrt in der Steinzeithorde. „Nu ham wir den Salat.“

Die Parteiblätter wollten sich

an die neue Richtung anpassen

Wenn es bis dahin bei mir noch sentimentale sozialistische Reste gegeben hatte, so waren sie nun restlos ausgebrannt. Dieses System hat die Menschen verachtet, es hat sie verkrümmt, hat sie zur Lüge gezwungen, zu Denunziation.

Ich setzte mich in den „Staatsbürgerkunde-Unterricht“, wo die Pauker ihre Lehrbücher über den siegreichen historischen Materialismus nun zur Makulatur erklären mußten. Ich besuchte die Redaktionen der Parteiblätter, die sich vorsichtig an die neue Richtung anpassen wollten. Ich las: „Schon vor einem Jahr lastete auf uns das Empfinden, daß es in der DDR Herrscher und Beherrschte gab.“ Übersetzung: Die Kacke war am Dampfen, aber ich war einfach zu feige, das Maul aufzumachen, weil ich einen ganz guten Job hatte.

Selbstverständlich warte ich heutzutage auf diese Kurskorrekturen nach der Schönsingerei des Scherbenhaufens, den die ökosozialistische Ampel nach nur dreieinhalb Jahren in unserem Land hinterlassen hat. Die Kassen sind leer, die Steuerlast ist ins Unermeßliche gestiegen, und die SPD-Vorsitzende Saskia Esken, kümmerliche Nachfolgerin von Giganten wie Willy Brandt oder Helmut Schmidt, steuert Enteignungen an. 

Ich besuchte das Theater in Anklam, wo ein junger Regisseur aus dem Westen Sam Shepards „Liebestoll“ inszenierte, das ich am Broadway mit Shepard selber und Jessica Lange gesehen hatte. Natürlich ein Reinfall auf ganzer Linie. Aber der Junge aus Lübeck hatte dem Theater neue Telefone, Computer, Biersponsoren versprochen, weshalb ihn der Intendant, der für die PDS kandidierte, gewähren ließ. 

Auf die versprochenen Wohltäter aus dem Westen warteten sie. Und warteten. Wie das ganze Land, in einer Inszenierung von Becketts „Warten auf Godot“. Doch Godot erschien nicht. Offenbar erfaßte meine Reportage die Stimmung im Lande, sie wurde mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis prämiert und von Regisseur Andreas Dresen unter dem Titel „Stilles Land“ verfilmt. 

Dort im Theater sprach ich mit dem alten Pförtner-Ehepaar, das seinen Sohn durch Selbstmord verloren hatte. Ich traf mich mit vielen Opfern des Systems, kleinen Leuten mit erschütternden Schicksalen, und meine Wut auf die Bonzen stieg, die alle dabei waren, sich neue Biographien, eben Widerstandvitae zuzulegen.

Die Propagandisten der Defa, des staatlich kontrollierten Filmunternehmens der DDR, waren für mich nicht zu sprechen. Im Pförtnerhäuschen zum Studiogelände lag ein Zettel: „Matussek vom Spiegel nicht reinlassen“. Offenbar hatte man dort meine Reportagen gelesen. Schließlich trat ich die Tür ein und platzte in eine Vorstandsrunde beim taktischen Kriegspalaver.

Mit Thomas Krüger, dem Bürgerrechtler und kommissarischen Oberbürgermeister Ost-Berlins, freundete ich mich an und lernte in seinem Vorzimmer eine junge, schöne Slawistikstudentin kennen, die später meine Frau wurde. Krüger war Mitgründer der neuen SPD im Osten, gemeinsam mit Ibrahim Böhme, einem melancholischen Trinker, der später als IM-Spitzel enttarnt wurde.

Wie viele Bürgerrechtler aus dem protestantischen Milieu trug Krüger, der als Vikar tätig war, einen mächtigen russischen Popenbart. Mittlerweile ist er glattrasiert und Chef der Bundeszentrale für politische Bildung, also der Propaganda-Abteilung der rot-grünen Ampel. Aufsehen erregte er, als er das Antifa-Netzwerk Indymedia mit einem Preis auszeichnete, sowie mit einer Phillippika gegen die christlichen Evangelikalen, die er mit Islamisten verglich.

Ich fuhr kreuz und quer durch den Osten und hatte viel Spaß mit der Autobahnwerbung, die so herrlich zwischen Propaganda und Reklame ins Ungefähre pendelte. Sie lobte die Völkerfreundschaft mit „Electro-Impex aus Bulgarien – ein zuverlässiger Handelspartner“ oder pries Hühner aus eigener Produktion: „Küken aus Segrehna – gesund, vital, leistungsstark“.

Aber ich lernte auch die Schönheiten des Ostens kennen, den Oderbruch, den Park von Fürst Pückler-Muskau in der Oberlausitz oder die gewaltige Rübezahl-Welt des Elbsandsteingebirges. Doch das politische Zwielicht blieb. Peter-Michael Diestel, letzter Innenminister der DDR im Kabinett von Lothar de Maizière, pries ganz ungeniert und stolz die Tugenden der DDR-Sicherheitskräfte, die in die deutsche Einheit mit eingebracht werden könnten, und natürlich hatte er recht, denn „befehlsverpflichtendes Gehorsamsverhalten“ war auch bei uns gefragt, vor Bauzäunen von Kernkraftwerken beispielsweise. 

Überall gab es Gesprächskreise. Im Haus des Lehrers, einem der Betonwürfel mit Proletkult-Mosaiken am Alexanderplatz, fand sich ein Dutzend Pädagogen zusammen, die über Jugendkulte sprachen. Sie erzählten sich von den jugendlichen „Grufties“ in ihren Klassen, die nachts auf Friedhöfe stiegen und Knochen ausbuddelten, und einer sagte resigniert: „Im Grunde genommen bestand doch unsere Generation auch aus Grufties. Wir haben auch Knochen ausgebuddelt und Leichen angebetet.“

Im November 1991 wurde das Lenindenkmal abgerissen

Nächtelange aufgeregte Debatten bei billigem Rotwein, jeden Tag eine neu aufgedeckte Schweinerei, eine neue Wendung, ein neues Staatsmodell. In Leipzig, bei den Montagsdemonstrationen, waren die ersten Rufe nach Wiedervereinigung laut geworden. Hieß es im Oktober 1989 noch „Wir sind das Volk“, so skandierte man jetzt 1990 „Wir sind ein Volk“. Und Heiner Müller, der Zyniker, ergänzte „Ich bin Volker“.

Eine letzte Reportage, geschrieben im November 1991, widmete ich dem Abriß der Leninstatue, sechs Stockwerke hoch, die zum Wallfahrtsort wurde, zum „Lourdes“ für versprengte linke Irre, mit Kerzen und einem Jungen, der „Wahnmache“ hielt, statt Mahnwache.

Nun sitzt dieser Schlag von Dreikäsehoch bei uns im Parlament für die Grünen, die, eine Generation später, das sozialistische Experiment wiederholen wollen – diesmal mit einem Totalabriß der kapitalistischen Wirtschaft.

Wir Deutschen lernen offenbar nie aus. 

Ich plädiere für einen neuen Tag gegen das Vergessen, einen neuen Tag der Einheit: den Glücks-tag des Mauerfalls.