In Berlin herrscht gerade das, was man zu Bonner Zeiten „italienische Verhältnisse“ zu nennen pflegte: Politische Instabilität, zerrüttete Staatsfinanzen, Wirtschaftskrise. „Es gibt offensichtlich keine Regierung“, stellt der frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel zum Berliner Elend fest. Und eine seiner Nachfolgerinnen, die heutige SPD-Chefin Saskia Esken, sagt: „In der Koalition brennt gerade die Hütte.“ Um im Bild zu bleiben: Keiner weiß, ob die Feuerwehr kommt und wenn ja, ob sie genügend Löschwasser hat. Die Unsicherheit ist groß: Esken: „Niemand will im Moment eine Prognose wagen, wann genau die nächste Bundestagswahl stattfindet.“
In der Tat gibt es mehrere Szenarien, die jeden Tag neu durchgespielt werden. Das wahrscheinlichste ist: Die FDP-Minister verlassen die Regierung, Kanzler Olaf Scholz stellt die Vertrauensfrage im Bundestag, erhält kein Vertrauen, und es wird Neuwahlen geben, möglicherweise im März statt wie bisher geplant am 28. September 2025. Zwar fühlen sich viele nach dem Quasi-Koalitionskündigungspapier von Finanzminister Christian Lindner an 1982 erinnert, als sie FDP die sozialliberale Koalition verließ und Helmut Kohl (CDU) per konstruktivem Mißtrauensvotum Kanzler wurde. Doch hat die Lindner-FDP von heute im Unterschied zur FDP von 1982 mit Otto Graf Lambsdorff an der Spitze nicht mehr die strategische Option, eine andere Regierung herbeiführen zu können.
Im derzeitigen Bundestag könnten Union und FDP selbst zusammen mit der AfD Kanzler Olaf Scholz nicht stürzen. Am besten beschreibt die heutige Situation der frühere FDP-Politiker Gerhart Baum, der 1982 dabei war: „Mal hat man den Eindruck, es wird bald enden. Mal hat man den Eindruck, es geht weiter.“ Baum sieht natürlich, daß der FDP jede strategische Option fehlt, denn vorgezogene Neuwahlen wären vermutlich ihr parlamentarischer Untergang. „Wenn die FDP aus der Ampel rausgeht, muß sie sagen, wohin sie geht. Es gibt ja keine wunderbare Alternative“, sagt Baum. Der ebenfalls krisenerfahrene Gabriel ergänzt: „Ich glaube, daß alle vor einer Sache Angst haben: das sind Neuwahlen.“ Lindner hoffe offenbar, daß Scholz ihn rausschmeiße, „aber so blöd ist der Scholz nicht“, glaubt Gabriel.
Brandbeschleuniger für den schon länger schwelenden jüngsten Koalitionsstreit war ein 18seitiges Papier von Lindner, ein Ultimatum mit Forderung nach Steuersenkungen. Der SPD-Co-Vorsitzende Lars Klingbeil will zwar mit der FDP darüber reden und verhandeln, schränkt aber gleich ein: „Wenn da am Ende aber das durchschimmert, was Herr Lindner schon 500mal vorgeschlagen hat und was wir schon 500mal abgelehnt haben, nämlich daß die reichen Leute in diesem Land noch mehr Geld in der Tasche haben, dann werden wir diesen Weg nicht mitgehen.“
Bei laufender Gesetzgebung blockieren sich die Koalitionäre
Lindner hält jedoch eine „grundlegende Revision politischer Leitentscheidungen“ für erforderlich, „um Schaden vom Standort Deutschland abzuwenden.“ Das heißt Verzicht auf sämtliche neue Regulierungen, Festhalten an der Schuldenbremse, Abschaffung des Solidaritätszuschlags und Steuersenkungen für Unternehmen. Dazu will er bürokratische Gesetze entschärfen oder abschaffen. In Brüssel will er den „Green Deal“ beenden und damit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen stoppen. Den „Deutschland-Fonds“ von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) mit schuldenfinanzierten Investitionszuschüssen hält Lindner für einen Verstoß gegen die europäischen Fiskalregeln. Darüber hinaus will er das Ziel, daß Deutschland 2045 klimaneutral werden soll, streichen. Damit wäre die grüne Klimarettungspolitik beendet.
Der SPD dürften im Lindner-Papier neben den Steuersenkungen besonders die Senkung des Bürgergelds und Verschlechterungen bei der Rente zuwider sein. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, daß auch die SPD ihren eigenen Plan zur Ankurbelung der Wirtschaft mit Steuersenkungen für die breite Masse und Steuererhöhungen für Großverdiener hat. Das ist wiederum Gift für Lindner. Schon bei der laufenden Gesetzgebung blockieren sich die Koalitionäre derzeit gegenseitig, unter anderem beim Rentenpaket 2 und bei kleineren ab 2025 geplanten Steuerentlastungen. Ob die Koalition die Woche übersteht, „wird man sehen“, sagt FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai. Der Satz könnte auch für die nächste oder die übernächste Woche gelten, denn selbst wenn die sich widersprechenden Papiere der Koalitionsparteien aus dem Weg geräumt werden könnten, muß das Haushaltsproblem gelöst werden: Es fehlen für 2025 mindestens 15 Milliarden Euro. Daß die Union angesichts dieses gordischen Knotens Neuwahlen fordert und damit rechnet, „daß diese Koalition diese Woche nicht überleben wird“, wie ihr Parlamentarischer Geschäftsführer Thorsten Frei sagt, ist nachvollziehbar. Kanzlerkandidat Friedrich Merz sieht große Schnittmengen zwischen den Unionsvorstellungen und dem Lindner-Papier. Dessen Vorschläge seien zum Teil wörtlich aus Unions-Anträgen übernommen.
Was Merz nicht sagt: Eine genauso hohe Übereinstimmung gibt es auch mit AfD-Anträgen, doch die Brandmauer-Doktrin verhindert jede Zusammenarbeit mit der AfD, mit der die Union nach der nächsten Bundestagswahl vermutlich eine komfortable Mehrheit haben könnte. Da die FDP der Bedeutungslosigkeit entgegentaumelt und die Grünen sich in einer Schwächephase befinden, würde Merz auf ein Bündnis mit der SPD angewiesen sein, deren Vorstellungen denen der CDU/CSU diametral entgegenstehen. Das sind sie, die italienischen Verhältnisse, die sich erst besserten, als die Democrazia Cristiana unterging.