Ein typisches Novemberwetter – grau und kalt. Aber egal, wo man sich in der DDR aufhielt, in dieser Zeit lag eine unglaubliche Spannung in der Luft. Ich war sicher: Dieses Knistern, dieses Flimmern würde sich entladen – nur wann? Und wie? Auch in meiner Partei, der Ost-CDU, rumorte es schon lange.
Ein Jahr zuvor hatte es einen Brief aus Neuenhagen unter der dortigen CDU-Vorsitzenden Else Ackermann an die Parteiführung gegeben. In ihm wurde nicht nur der Parteivorsitzende Gerald Götting kritisiert, sondern grundsätzliche Kritik am System geübt. Die Folge: Der Brief verschwand in der Schublade, und Frau Ackermann verlor ihre Stellung als Ärztin. Dann kamen die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989. Die Wahlfälschungen waren offensichtlich. Außerdem suchten täglich mehr DDR-Bürger die Flucht über Ungarn in den Westen. Was konnten wir als CDU tun? Was konnten die Kirchen tun? Und konnte es eine friedliche Lösung geben? Dann, am Horizont, das darf man nicht vergessen, stand China. Das Land, das im Juni einen Aufstand blutig niedergeschlagen hatte und mit dem die DDR-Machthaber drohten: „China liegt nicht so weit weg, wie es geographisch aussieht.“ So erinnere ich die Stimmung in der DDR in diesem deutschen Schicksalsjahr.
Ich verstand mein Amt als Pastorin als Profession. Ich sah mich nie in der Politik, war allerdings Mitglied in der CDU, und ich gehörte zu den vier Unterzeichnern des „Weimarer Briefes“. Wir, das waren Kirchenrat Gottfried Müller aus Jena, er war der Kopf des Ganzen. Dann Oberkirchenrat Martin Kirchner aus Eisenach, ein später enttarnter Informeller Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit; die Rechtsanwältin Martina Huhn, sie war Mitglied der Synode des DDR-Kirchenbundes, und ich, Pastorin in Ramsla, das liegt bei Weimar. Müller wollte nur einen kleinen Kreis an Unterzeichnern. Wir kannten uns persönlich über die Kirchenzeitung Glaube und Heimat. Er war Chefredakteur, und ich schrieb gelegentlich Artikel für seine Redaktion.
Ich erinnere mich noch, daß mir ein Satz in unserem Brief besonders wichtig war. Er lautete: „Das Prinzip des demokratischen Zentralismus gehört nicht zu den spezifischen Traditionen der CDU.“ Der Brief richtete sich an die Parteimitglieder und die Vorstände. Wir wollten eine Erneuerung der Partei und im Land. Mein Mann Martin, ebenfalls Pfarrer, sah mein Engagement in der Ost-CDU kritisch. Als ich ihn in unser Vorhaben des „Weimarer Briefes“ einweihte und sagte „Du, wir kippen die Ost-CDU“ stärkte er mir den Rücken und war angetan: „Endlich mal was Vernünftiges.“
„Ohne diese Revolution wären wir erstickt“
Wir unterschrieben den Brief am 10. September. In den folgenden Tagen wurde er verteilt. Es dauerte damals einige Tage, bis alle Briefe in den 217 Landkreisen der DDR angekommen waren. Doch dann berichteten die westlichen Medien, und alle fragten auf einmal nach unserem Brief. In der Ost-CDU-Führung war die Empörung groß. Man wollte uns zur Rücknahme des Briefes bewegen. Das Neue Deutschland nannte den Brief einen „trojanischen Ladenhüter“, ohne aus ihm dabei auch nur ein Wort zu zitieren.
Erst sechs Wochen später, am 25. Oktober, erschien er für alle nachlesbar in der Neuen Zeit, der Parteizeitung der CDU. Für uns Unterzeichner war klar, daß Parteien gebraucht werden, aber mit anderem Personal und unabhängig von der SED. Gemeinsam mit neun Mitstreitern fuhr ich am 1. November nach Berlin, um dort im Otto-Nuschke-Haus, im Büro des CDU-Vorsitzenden Gerald Götting dessen Rücktritt zu erzwingen. Nach meiner Erinnerung trank er während wir redeten ständig Kaffee und lachte unentwegt. Schließlich stand er auf und sagte, er würde seinen Rücktritt mit „Bravour“ erledigen. Das waren seine Worte. Und er trat tatsächlich am folgenden Tag zurück.
Reisen mit dem Zug von Weimar nach Berlin waren für mich durch meine Ehrenämter, die ich in der kirchlichen Jugendarbeit auf DDR-Ebene innehatte, Routine. Es gab regelmäßige Treffen von Ost und West, Gremiensitzungen und Projektvorbereitungen. An meine Fahrt am 9. November erinnere ich mich allerdings sehr genau. Ich bin zeitlich relativ knapp gefahren, war erst am späten Vormittag aus Weimar weggekommen. Es hätte durchaus passieren können, daß mir bei Kontrollen im Zug Ärger mit Polizei und Stasi drohte. Doch es passierte nichts. Jahre später erfuhr ich, daß ich auf einer Internierungsliste der Stasi stand – wegen „staatsfeindlicher Hetze“.
In Berlin angekommen, bin ich direkt zum Französischen Dom gefahren. Hier wurde am Nachmittag die Christlich-Demokratische Jugend (CDJ) gegründet, der erste nichtkommunistische Jugendverband in der DDR. Ich wurde sofort ins Präsidium gewählt. Dann ging es vom Untergeschoß in den Kirchensaal. Hier hatten sich für den Abend etliche neue demokratische Gruppen und Reformkräfte zu einem ersten gemeinsamen Austausch unter dem Thema: „Die Kirchen, die Parteien und die Zukunft des Landes“ versammelt. Unter Schirmherrschaft von Manfred Stolpe ergriffen Lothar de Maizière, Rainer Eppelmann, Konrad Weiß, Konrad Elmer, Ehrhart Neubert und viele andere das Wort. Auch Gregor Gysi schaute kurz mal rein. Mir war klar, daß ich mich als Mitverfasserin des „Weimarer Briefes“ zu Wort melden müsse. Etwas aufgeregt, aber fest entschlossen schob ich meine Pulloverärmel auf Ellenbogenhöhe und ging zum Pult. Erst kürzlich tauchte dazu sogar ein Videomitschnitt auf, den ich mir ansah. Spontan dachte ich, mein Gott, warst du blutjung. Wir wollten die Demokratisierung der Ost-CDU erreichen, und auch eine Demokratisierung der DDR. Ich prangerte die enorme Umweltzerstörung zwischen Magdeburg und Dresden an. Als ob die DDR-Umweltsünden nicht schon groß genug gewesen wären, kippte damals auch der Westen seinen Müll bei uns ab. „Westlicher Dreck gegen Devisen für die Kommunisten“, das war bitter. Wenn die friedliche Revolution nicht gekommen wäre, wären wir erstickt.
Mit dem Ruf nach Frieden, dem wunderbaren Kanon „Dona nobis pacem“, beendeten wir ungefähr gegen 21 Uhr das Treffen. Es war dunkel. Wir standen noch in Grüppchen vor der Kirche und wechselten ein paar Worte. Da ging auf einmal ein Raunen unter uns um, daß die Mauer geöffnet sei oder alsbald aufgehen würde. Doch ich bin nach Hause gefahren. Übrigens gemeinsam mit Ralf Luther, der später CDU-Landrat in Schmalkalden-Meiningen wurde. Rainer Eppelmann ging auch nach Hause. Er ist, wie er mir später erzählte, mitten in der Nacht aufgestanden und wieder los zur Mauer gegangen. Als ich in Weimar aus dem Nachtzug ausstieg, holte mein Mann mich am Bahnhof ab. Er empfing mich mit den Worten: „Die Mauer ist offen.“
Christine Lieberknecht, geboren 1958 in Weimar, studierte evangelische Theologie und war seit 1984 Pfarrerin. 1990 wurde sie Kultusministerin des Freistaats Thüringen, 1999 Präsidentin des Thüringer Landtags. 2009 wurde Lieberknecht zur Thüringer Ministerpräsidentin gewählt, als erste CDU-Regierungschefin in einem Bundesland. Sie schied 2014 aus dem Amt.