© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/24 / 01. November 2024

Nichts weniger als die Weltherrschaft
Der Sozialwissenschaftler Elmar Nass untersucht anhand der Parteidoktrin die Strategie des chinesischen Staatslenkers Xi Jinping
Albrecht Rothacher

Hätte nur jemand damals „Mein Kampf“ gelesen. Der chinesische Diktator auf Lebenszeit Xi Jinping macht es noch schwerer. Seit 2014 ließ er vier Bände von insgesamt 2.800 Seiten seiner von Banalitäten und moralischen Parolen triefenden, wohlklingenden Gemeinplätze als neue verbindliche Parteidoktrin der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) veröffentlichen. Elmar Nass, Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Kölner Hochschule für Katholische Theologie, hat sich der bewundernswerten Mühe unterzogen, diese für uns zu exzerpieren und zu kondensieren. Und siehe da, die Einsichten sind ebenso erschütternd wie eindeutig.

Chinas Wohl ist der Schlüssel zum Wohl der ganzen Welt

Xi Jinping sieht sich in der Tradition sowohl des Marxismus-Leninismus, der Gedanken Mao Tse-tungs, des Reformators Deng Xiaoping sowie des tradierten Konfuzianismus. Genug der Verwirrung. Er bejaht den Parteiphilosophen Chen Yun: Die Chinesen und ihre Wirtschaft sind Vögel im großzügig bemessenen, von der Partei kontrollierten, edel gestalteten Käfig, in dem sie frei und gesund herumfliegen, sich aber keinesfalls nach außen verirren dürfen. Laut Xi ist China der Staat der demokratischen Diktatur des Volkes unter Führung der Arbeiterklasse. Volks- und Parteiwille sind demnach identisch und legitimieren die Macht der Partei über die Wirtschaft, Bildung, Religion, Kunst, Wissenschaft, die Medien, das Militär und die Justiz. Es gilt der Marx-Engelsche historische Materialismus mit seinen wissenschaftlichen und atheistischen Gesetzmäßigkeiten, dank dessen Einsichten nur die unfehlbare KPCh im Einparteienstaat den Volkswillen repräsentieren kann. Wobei sie ohne Dogmatismus im Sinne des Sino-Marxismus für Weiterentwicklungen für den einzig möglichen Weg zur Erfüllung des großen chinesischen Traumes offen bleibt. 

Dieser besteht im Wiederaufleben der chinesischen Nation als Befreiung aus den Traumata der vergangenen Demütigungen der letzten beiden Jahrhunderte und soll 2049 mit der Hundertjahrfeier der Volksrepublik in der „Vollendung des Aufbaus eines wohlhabenden, mächtigen, demokratischen, zivilisierten und harmonischen sozialistischen Landes“ kulminieren. Das Endziel „harmonisch“ soll als eine klassenlose Gesellschaft und damit höchste und letzte Stufe der menschlichen Entwicklung gelten. Für dieses Ziel ist jedes Mitglied des Kollektivs aufgerufen, sich loyal und mit ganzer Kraft opferbereit einzusetzen und seine Seele als Patriot der Parteilinie und ihrem Führer zu schenken. 

Chinas Wohl ist dabei auch der Schlüssel zum Wohl der ganzen Welt. Wirtschaftliche Voraussetzung ist seine Autarkie, seine Unabhängigkeit in politischer, militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht, einschließlich der Versorgung mit Lebensmitteln, Energie und Rohstoffen, um weltweit umfassend führend zu werden. Angesichts der Überlegenheit des chinesischen Weges gegenüber anderen Nationen und Wirtschaftsordnungen können alle Einmischungen von außen, seien sie vom kapitalistischen Westen oder dem Regelwerk der Uno, zurückzuweisen. In jener Pax Sinica, die in der neuen Seidenstraßen-Initiative abhängige autoritär regierte Partner unterwirft und in Gestalt der BRICS+ als Gegeninitiative zum US-dominierten Westen zu organisieren sucht, versucht die KPCh durch den Vorrang der eigenen Werte die Menschheitsprobleme zu lösen. 

Sie braucht dabei nicht wie zu Maos Zeiten in marxistischer Tradition eine Weltrevolution (die damals von Vietnam, Kambodscha, Malaysia, Indonesien und Indien bis Mosambik und Angola instigiert wurde), sondern sucht Vasallen, die sich wie einst vom chinesischen Kaiser belehren und anleiten lassen. Wobei chinesische Interessen immer Vorrang haben und zur Not auch wie aktuell bei Gebietsansprüchen gegenüber Nachbarstaaten auch militärische Zwangsmaßnahmen eingesetzt werden, „um Feindschaft in Freundschaft umzuwandeln“. 

Xi selbst stilisiert sich als überragender Führer von Staat und Partei, um die nötigen ideologischen und politischen Säuberungen zu organisieren. Dabei hat das Volk loyal zur Partei zu sein, die Partei zum ZK, und das ZK zu ihm. In der Nachfolge Maos und Dengs sieht er sich als wohlmeinender Diktator, der den gesunden Willen von Partei und Volk verkörpert. Die Feinde der Partei, die immer recht hat, hält er für unpatriotisch und ungesund und nennt sie eine Schande, Schmutz, Abschaum, Parasiten und Viren, die identifiziert und ausgemerzt werden müssen. Das Volk muß moralisch zur sozialistischen Tugend statt zum Individualismus und Nihilismus erzogen werden, weswegen auch der Import falscher Ideen kontrolliert werden und auch die Religion patriotisch orientiert sein muß, einschließlich der der Partei untergeordneten katholischen Nationalkirche. 

Von der von Parteikadern in jedem Betrieb unter Aufsicht gestellten Marktwirtschaft sind keine liberalisierenden Auswirkungen erlaubt. Sie gilt nur als Instrument für patriotische, das heißt sino-marxistische Zwecke. Auch die Uno-Menschenrechts-Charta wird von Xi nicht als Individualrecht, sondern als Recht im Dienst des Kollektivs, als Recht auf gesellschaftliche Entwicklung, interpretiert. Entsprechend gibt es keine Gewaltenteilung. Die Justiz muß patriotisch sein, denn die Partei, die dem Volkswillen entspricht, ist die unangefochtene Moralinstanz, vor der sich der Mensch zu verantworten hat. Die politischen Entscheidungen fallen entsprechend zentralistisch, schnell und ohne Einmischungen. Deshalb natürlich oft in ideologischer Verblendung ohne den nötigen Sachverstand – wie in den aktuellen Überkapazitäten der Bau- und Stahlindustrie, der Solar- und E-Autobranche und der Fehlallokation von Staatsbankkrediten im In- und Ausland sichtbar. 

Xis Ideologie ist nicht frei von Widersprüchen

Das Ziel von Xi ist es laut Nass, die Welt politisch, wirtschaftlich und militärisch, mit einem hegemonialen Führungsanspruch marxistisch zu sinisieren. Dies erfolgt durch die Zersetzung und Einschüchterung von wirtschaftlichen Konkurrenten und politischen Gegnern (stets in bilateralen Verhandlungen, in denen China stärker ist), Zurückdrängung westlicher Unternehmen aus dem chinesischen Markt und Übernahme der weltweiten Macht bei Spitzentechnologien durch staatlich gelenkte chinesische Konzerne. Soweit die stringente Blaupause als im Klartext lesbare Strategie der Xi-Diktatur. Westliche Illusionen des „Wandels durch Handel“ und die von Kanzlerin Angela Merkel reichlich naive, noch bis 2021 verfochtene „umfassende strategische Partnerschaft“ mit China, sollte damit hinfällig sein.

Doch ist Xis Ideologie, wie Nass überzeugend darlegt, nicht widerspruchsfrei. Der Versuch seiner Synthese des Marxismus-Leninismus mit dem während der Kulturrevolution verfemten Konfuzianismus, einer Tugendlehre, die auf soziale Harmonie im Kreislauf zum Erhalt einer 5.000 Jahre alten Zivilisation abzielt, stößt sich an der marxistischen Dialektik des Klassenkampfes, die eine fundamental neue Gesellschaftsordnung herstellen soll. Der proletarische Internationalismus mit der Gleichheit aller Völker steht im Widerspruch zu Xis Betonung der Überlegenheit eines hegemonial angelegten chinesischen Models und seiner nationalistischen Identität. Nicht zuletzt sind da auch die Geschichtslügen des Regimes, das die eigene Kolonialgeschichte gegenüber allen umliegenden Völkerschaften: Koreanern, Vietnamesen, Manchus, Mongolen, Tibetern, Kasachen, oder Uiguren ignoriert und sich stets nur in einer Opferrolle darstellt.

Wie also sollte eine Gegenstrategie aussehen? Hier bleibt Nass als Ethiker sehr idealistisch, indem er die Xi-Ideologie anhand des abendländischen Menschenbildes der individuellen Personalität und seiner Verantwortung kritisiert. Die Pflicht zur Wahrhaftigkeit und Vertragstreue sowie die Toleranz pluraler Meinungen mit Kompromissen und Minderheitenrechten sei eher ein Gegenkonzept zum Menschen- und Gesellschaftsbild der KPCh und ihrer Rückbesinnung auf die eigene Kultur, ihre identitätsstiftende Kontexte wie Heimat, Religion und Familie und ihre ethische Fundierung. Sodann sollten Alternativen zum Seidenstraßen-Konzept Chinas entwickelt werden – effizienter hoffentlich als das bislang verunglückte „Global Gateway“ Potpourri der EU-Kommission. Und schließlich die Stärkung der westlichen Allianz, der Abwehr ihrer Zersetzungsversuche und der Rückendeckung für Taiwan als der erfolgreicheren demokratischen Alternative zur hegemonialen Despotie des Festlandes.

Der sehr instruktive Band von Elmar Nass trennt dankenswerterweise erstmalig in der überbordenden staatschinesischen Propaganda stringent die Spreu vom Weizen. Allerdings, dies sei als Fußnote angemerkt, ist die Lesefreude durch die Neigung des Autors zu umständlichen langatmigen Einleitungen und häufige didaktische Wiederholungen etwas eingetrübt.


Elmar Nass: Der globale Puppen­spieler. Die Vision von Xi Jinping und eine Antwort der Freiheit. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2024, broschiert, 224 Seiten, 26 Euro

Foto: Chinas Präsident Xi Jinping (M.) vor Offizieren der Garnison Changsha, Provinz Hunan 2024: Wohlmeinender Diktator, der den gesunden Willen von Partei und Volk verkörpert