Seine Ambiguitätstoleranz kannte keine Grenze. So würde es ein moderner Psy-chiater formulieren. Nichts konnte Joseph Joffreaus der Bahn werfen. Niemand übertraf ihn in der Fähigkeit, alle Fehlschläge, Niederlagen und Demütigungen wegzustecken. Er drückte sie mit seinem unerschütterlichen Selbstbewußtsein einfach zur Seite. Wäre er als Radfahrer bei der Tour de France gestürzt, dann wäre er wieder aufgestanden und hätte gleichmütig und ohne mit der Wimper zu zucken einfach weiter pedaliert.
Er war aber kein Radfahrer, sondern ein hoher Militär. Aber das sah man ihm überhaupt nicht an. Er hatte die Attitüde eines einfachen Bauern: robust und rustikal, mürrisch und schweigsam. Niemals hätte man in ihm, mit seinem anspruchslosen Habitus, seinem mächtigen weißen Schnurrbart und seinem schlichten Auftreten einen General erkannt. Er trug weder Rangabzeichen noch glänzende Uniformen, weder Monokel, Sporen noch Handschuhe. Stets schlurfte er selbst bei Staatsempfängen im schmucklosen Ornat umher: im schwarzen Waffenrock, mit roten, weit ausgebeulten Hosen, an den Füßen wildlederne Gamaschen, und einem sackartigen, schwarzen Mantel. Das verstieß zwar gegen alle Vorschriften, hatte aber den Vorteil, daß sein gewaltiger Bauch nicht zum Vorschein kam.
Anders als alle seine Kollegen, unter denen viele kühnere und wagemutigere, einfallsreichere und brillantere Köpfe waren als er, hatte er im Drachenblut der emotionalen Unverwundbarkeit gebadet. Und es gab kein Lindenblatt, das auch nur eine einzige Stelle in seinem derben, kernigen Charakter dabei ausgespart hätte. Die Basis seiner Popularität war denn auch weder seine Bildung noch sein Intellekt, die beide bestenfalls durchschnittlich, jedenfalls unauffällig waren. Wofür ihn alle bewunderten, das waren seine Gemütsruhe, seine Kaltblütigkeit und seine nie versiegende Zuversicht, die ihn alle Krisen und Anfeindungen überstehen ließen.
Auch als Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte im Ersten Weltkrieg konnte ihn nichts erschüttern. Keine Widersetzlichkeit von Untergebenen, keine Borniertheit von Politikern, keine überlegenen Argumente erfahrenerer Kollegen und auch keine ausweglosen Situationen, selbst wenn er sie durch eigene Fehler selbst heraufbeschworen hatte. Er hatte mit 22 deutschen Divisionen gerechnet. Tatsächlich waren es 34, die wie Hornissen über sein Land herfielen. Er hatte auf einen fahrlässigen und falschen strategischen Plan gesetzt, der dem Feind die Tore im Norden weit öffnete. Und er hielt unbeirrt an seinem vermeintlichen Siegesrezept fest, obschon es jeden Tag für Zehntausende junger Männer zur Todesmühle wurde.
„Welche Ströme von Blut sind schon geflossen. Mich überkommt oft ein Grauen, wenn ich daran denke“, so notierte Moltke, sein Gegenspieler als Chef des Großen Generalstabes um diese Zeit. Ihm waren solche Gewissensqualen vollkommen fremd. Er blieb auch im Angesicht von Abgrund und Katastrophe der, der er immer gewesen war: emotionslos, unerschütterlich und kalt. Nicht einmal die schwüle Augusthitze des Jahres 1914 konnte ihm etwas anhaben. Er hockte nicht wie seine Kollegen in den kühlen Mauern eines Schlosses, sondern in einem muffigen, stickigen und nach Kreide riechenden Schulhaus.
Dort gestaltete er seinen Tagesablauf auch in den dramatischsten Stunden, als Frankreich mit dem Rücken zur Wand stand, immer nach dem gleichen Ritual. Einem ausgedehnten Frühstück folgten Blitzbesuche an der Front, wobei er seinen Fahrer, der dreimal den Grand Prix gewonnen hatte, in einem Höllentempo über die staubigen Landstraßen jagte. Dann, nach der Lagebesprechung, plante er ausgiebig die Gaumenfreuden und lukullischen Genüsse für den Abend. Und spätestens um 22 Uhr verkroch er sich in sein Bett für mindestens acht Stunden ausgedehnten Schlafes, der um keinen Preis gestört werden durfte.
Seinen unerbittlichen Ruf begründete er in Kolonialkriegen
Nur wenn ihn die Wut packte, was selten vorkam, brach es wie eine Naturgewalt aus ihm heraus. Dann zitterte seine Umgebung vor ihm, dann rollten die Köpfe, dann war jeder Widerstand, jedes Argument zwecklos. Er machte dann, so einer seiner Generalskollegen, „kleine, schroffe Armbewegungen, die leise Stimme wurde einen Halbton höher, der Kopf ging eine Winzigkeit nach hinten, die großen Nasenlöcher weiteten sich, und die Worte, die dann unter dem dicken Schnurrbart herauskamen, vergaß man nie mehr.“ Mehr als sechzig Generale und hohe Offiziere bekamen diese Wutausbrüche zu spüren, als er sie mitleidslos ihres Amtes enthob und in die Wüste der Pensionierung oder Degradierung schickte. Das Gebaren des unerbittlichen Oberbefehlshabers endete erst, als er nach 1916 zum Marschall von Frankreich ernannt wurde und danach militärdiplomatische Aufgaben in den USA übernahm.
Er blieb sich, seinem Herkommen und seinen Erfahrungen, immer treu. Aufgewachsen war er in Rivesaltes, einem kleinen Winzerort im Département Pyrénées-Orientales, wo er in den Weinbergen seines Vaters herumstreunte und schon als Knabe durch seine außergewöhnlichen mathematischen Fähigkeiten auffiel. Sein Vater hatte ihm Cäsar als einen seiner Vornamen verpaßt. Das deutete schon darauf hin, daß er weit größere Dinge vom Sohn erwartete, als sein Talent als Winzer zu verschwenden. Für eine der elitären Militärakademien reichte es freilich nicht. Stattdessen führte ihn sein Weg ins Polytechnicum und dann hinaus in die Welt der Kolonien seines Landes.
Dort in den entlegensten Winkeln der Erde lag die Werkstatt seines robusten Selbstverständnisses, und dort, in den französischen Kolonien, begründete er seinen Ruf als abgebrühter und hartgesottener Eisenfresser: in Indochina, wo er im Tonkin-Delta aufständische Vietnamesen massakrierte; in Zentralafrika, wo er Tausende Dörfer abrasieren ließ, um eine Eisenbahnlinie zwischen dem Senegal und dem Sudan zu bauen; in Timbuktu, in Mali, wo er fast jenen ganzen Volksstamm auslöschte, dessen Überlebende heute für ein Flaggschiff des VW-Konzerns als Namenspatron herhalten müssen (Touareg); und auf Madagaskar, wo er zahllose Eingeborene abschlachten ließ.
Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.