© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/24 / 01. November 2024

Noch ist Polen nicht verloren
Die russische Niederschlagung des Kosciuszko-Aufstandes 1794 und die darauf folgende dritte Teilung Polens markieren dort ein anhaltendes Trauma gegenüber der Bedrohung aus Rußland
Matthias Bäkermann

Im Kontext der sich mit dem Ukraine-Krieg zuspitzenden Lage in Osteuropa hat der an der Universität Warschau lehrende Historiker Marcin Zaremba folgende Erklärung parat: „Einige Ängste und Traumata, Gewohnheiten und Verhaltensweisen sind längst in den kulturellen Blutkreislauf der Nation eingedrungen. Sie kursieren dort zum Teil noch heute“, erklärte Zaremba die Verunsicherung seiner polnischen Landsleute, die primär auf die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zwischen Molotow-Ribbentrop-Pakt und der Befreiung vom imperialen Sowjetkommunismus nach 1989 gründen, im Fall Rußlands aber noch tiefere Wurzeln haben. 

Genau diese Wurzeln sind geschichtspolitisch auch in Putins Reich präsent, was sich erst im September 2024 in der Bemerkung des an der Moskauer Staatsuniversität lehrenden Historikers Andrej Sidorow ausdrückte, indem er „unseren polnischen Kollegen deutlich zu machen“ glaubte, daß „wir die Sicherheit von Belarus als unsere eigene betrachten. Sollten sie etwas unternehmen, könnte Polen, mit Verlaub, aufhören zu existieren“. Diese ganz bewußt aktivierte Synapse spielte auf ein Trauma an, das in Polen viel weiter zurückreicht als bis zum August 1939. Sidorows Andeutung meinte vielmehr die mit der Dritten Polnischen Teilung „endende Existenz“ des Staates, die nicht zuletzt jedem Polen durch den Text seiner Nationalhymne „Mazurek Dabrowskiego“ geläufig ist. Denn ihre erste Zeile „Noch ist Polen nicht verloren“ blieb nach der blutigen Niederschlagung des Kościuszko-Aufstandes 1794 für 125 Jahre Jahre nur ein frommer Wunsch, nimmt man das kurze Intermezzo des Herzogtums Warschau unter Napoleons Gnaden aus. 

Als der russische General Alexander Suworow am 4. November 1794 den Warschauer Vorort Praga am rechten Weichselufer einnahm, wurde eben nicht nur das im Folgejahr durchgesetzte staatsrechtliche Ende der Republik („Rzeczpospolita“) eingeleitet, sondern die Massaker von Suworows Kosaken kosteten nicht nur alle polnischen Kriegsgefangenen und Verletzten das Leben, sondern auch mindestens 20.000 zivile Einwohner der Weichselstadt. Abertausende Polen wurden nach Sibirien verschleppt, denen in dem Jahrhundert unter der Zarenknute noch unzählige folgen sollten. Zugleich begann auf Befehl von Zarin Katharina ein gewaltiger, Polen ins Mark treffender Kunstraub, unter anderem mit der 400.000 Bände umfassenden Bibliothek der Załuskis aus Warschau eine der größten europäischen Büchersammlungen, die noch heute in der Bibliothek der Staatlichen Universität Sankt-Petersburg am Newski-Prospekt zu bestaunen ist. Auch der Anführer des Aufstandes, Tadeusz Kościuszko, geriet in russische Gefangenschaft, lebte nach seiner Begnadigung durch den Zaren ab 1797 im Exil in Frankreich und der Schweiz. In die polnische Heimat sollte nur mehr sein Leichnam zurückkehren. Dieser wurde ein Jahr nach seinem Tod 1817 in die Königsgruft der Wawel-Kathedrale von Krakau überführt.

Polen als große Kontinentalmacht auf tönernen Füßen

Als Kościuszko 1746 geboren wurde, war Polen die größte Kontinentalmacht Europas. Seine Grenzen gingen von der Halbinsel Hela in der Danziger Bucht bis an die Flüsse Dnister und Dnepr in Podolien und der Ukraine, von der Zips in den slowakischen Karpaten bis Witebsk und vor die Tore von Smolensk. Der Sohn polnischer Landadliger, der sogenannten Szlachta, stammte aus dem heutigen Weißrußland, er bekam eine exzellente militärische Ausbildung in Warschau und später in Paris, wo er auch Deutsch und Französisch lernte. Doch als der mittlerweile zum Hauptmann aufgestiegene Offizier in seine polnische Heimat zurückkehrte, fand der 28jährige in der nach 1772 dezimierten Armee keine Verwendung mehr. 

Denn mittlerweile war die durch strukturelle verfassungsmäßige Schwächen wie dem „Liberum Veto“ geprägte „Rzeczpospolita“, mit dem jedes Mitglied der Szlachta durch seinen Einspruch einen zuvor ausgehandelten Kompromiß zu Fall bringen konnte, der Einflußnahme der Nachbarmächte ausgesetzt. Diese feuerten die innere Spaltung der Adelsrepublik zusätzlich an. Während der kompletten Regierungszeit unter König August III., Sohn August des Starken, zwischen 1736 und 1763 konnte zum Beispiel kein einziger Reichstag erfolgreich abgeschlossen werden. Die russische Zarin Katharina versuchte diese Schwäche zu nutzen, um 1764 ihren Wunschkandidaten auf den polnischen Thron zu hieven. Ein schwacher, pro-russischer König bot in den Augen der Zarin „die beste Gewähr für die Subordination des Warschauer Hofes unter die Weisungen Petersburgs“. Doch als sich dieser König Stanislaus II. August Poniatowski als wenig gefügig erwies und sogar durch die Abschaffung des „Liberum Veto“ der polnischen Anarchie beizukommen gedachte, faßte Zarin Katharina härtere Maßnahmen in den Blick. Um sich bei diesen machtpolitischen Schritten in Polen das Einverständnis der anderen angrenzenden Mächte zu sichern, bot sie territoriale Zugeständnisse auf Kosten Polens an. Preußen ließ sich nicht lange bitten und konnte mit dem Zugewinn Westpreußens endlich die Landbrücke zwischen Königsberg und Berlin herstellen und damit das politische Testament Friedrichs II. von 1768 realisieren. 

Obwohl die österreichische Monarchin Maria Theresia moralische Bedenken vorschob, ihre „Ausgleichansprüche auf Kosten eines ‘unschuldigen Dritten’ und noch dazu eines katholischen Staates wirksam werden zu lassen“, beteiligte sich an dem in ganz Europa Aufsehen erregenden Landraub. Die höhnischen Worte „Sie weinte, aber sie nahm, und je mehr sie weinte, desto mehr nahm sie“, wurden Friedrich dem Großen wohl nur in den Mund gelegt, sie entsprachen aber der Realität, war Österreich mit dem Zugewinn Galiziens doch der größte Nutznießer der Ersten Polnischen Teilung. Der britische Konservative Edmund Burke verurteile Friedrich und Maria Theresia, weil sie Mitteleuro-pa der unaufhaltsamen „überwältigenden Macht und den Ambitionen Rußlands“ ausgesetzt haben.

Währenddessen machte der junge polnische Offizier Kościuszko in Amerika Karriere. Er traf 1776 in Philadelphia ein, wo er als Oberst an seiten von George Washington im Amerikanischen Unabhängkeitskrieg kämpfte und vom US-Kongreß für seine Verdienste im Rang eines Brigadegenerals die US-Staatsbürgerschaft verliehen bekam. 1784 kehrte Kościuszko an den Familiensitz in der damaligen Woiwodschaft Brześć Litewski zurück. Nach dem Eintritt in die königliche Armee wurde er 1789 vom polnischen König Poniatowski zum Generalmajor ernannt. Kościuszko war durch seine Aufenthalte in Paris und den USA mittlerweile von republikanischen Ideen durchdrungen. Die von 1788 bis 1792 durchgeführten Reformen in diesem Sinne begrüßte er lebhaft. Wegen aufgedeckter Interventionspläne gegen die Teilungsmächte Rußland und Preußen mußte er aber nach Paris fliehen, von wo er 1794 zurückkam. Von der Levée en masse in Frankreich beeindruckt, versuchte Kościuszko mit dem Ausheben der mit Kriegssensen bewaffneten Bauern dem polnischen Kampf den Charakter eines Nationalaufstandes zu geben. Aber auch ein Sieg der „Sensenmänner“ gegen die Russen in der Schlacht bei Racławice am 4. April 1794 blieb gegen die Übermacht nur eine letzte, verzweifelte Episode.



Jan Matejko, „Tadeusz Kosciuszko in Raclawice“, Öl auf Leinwand 1888: „Einige Ängste und Traumata, Gewohnheiten und Verhaltensweisen sind längst in den kulturellen Blutkreislauf der Nation eingedrungen“