Der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen (IGH) hat am 19. Juli 2024 ein Gutachten über die rechtlichen Folgen der israelischen Politik und Praxis in den okkupierten palästinensischen Gebieten veröffentlicht. Es hat bisher allerdings viel zu wenig Beachtung gefunden. Das ist insofern bedauerlich, als dieses Gutachten sowie dessen zustimmende Bestätigung durch eine Resolution der UN-Generalversammlung vom 13. September 2024 grundsätzliche und wegweisende Orientierungen für eine Lösung des seit vielen Jahrzehnten schwelenden Nahostkonflikts enthalten.
Das Gutachten, das der IGH auf Antrag der UN-Generalversammlung erstellt hat, genießt als Rechtsauffassung des höchsten internationalen Gerichts eine besonders hohe Autorität. Das Gericht besteht nämlich aus 15 unabhängigen und hochangesehenen Völkerrechtlern, die die hauptsächlichen Rechtssysteme vertreten.
Kraft dieser Autorität ist das allein auf der Grundlage allgemein anerkannter Rechtsnormen fußende Gutachten geeignet, zwischen den oft konträren Positionen zum Nahostkonflikt zu vermitteln. Solche unterschiedlichen, oftmals emotional aufgeladenen Auffassungen in der Gesellschaft finden sich auch hierzulande. Deshalb bietet das Rechtsgutachten des IGH auch für die deutsche Innen- und Außenpolitik wichtige Leitlinien, nicht zuletzt auch für die Interpretation des bislang nicht näher definierten Begriffs der Staatsräson zugunsten der Sicherheit Israels.
In ihrer „A/RES/77/247“ genannten Resolution vom 30. Dezember 2022 ersuchte die UN-Generalversammlung den IGH darum, die Politik und das Vorgehen Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten umfassend rechtlich zu bewerten und zu klären, welche Rechtsfolgen daraus für Israel, die anderen Staaten und die Uno entstehen.
Bei der Beantwortung sind einige Besonderheiten zu berücksichtigen. In territorialer Hinsicht besteht Palästina aus drei Gebietsteilen, die in der Westbank, dem Gaza-streifen und in Ost-Jerusalem in unterschiedlicher Weise der israelischen Besatzung unterliegen.
Ungeachtet der verschiedenen faktischen Situationen gelangt der IGH zu der Auffassung, daß alle drei Teile aus rechtlicher Sicht als territoriale Einheit Palästinas zu behandeln sind, denn in allen drei Gebietsteilen übt Israel die effektive Kontrolle aus. Das gilt auch für den Gazastreifen, über den Israel seit 2005 letztlich stets die volle Herrschaft hatte. Daraus ergeben sich für Israel eine Reihe völkerrechtlicher Verpflichtungen, insbesondere aus dem Kriegsrecht.
In zeitlicher Hinsicht erstreckt sich die Untersuchung von 1967, als die Besatzung nach dem Sechstagekrieg begann, bis zur Verabschiedung der UN-Resolution vom 30. Dezember 2022, in der der Antrag auf Erstellung des Gutachtens erging. Die Ereignisse seit dem 7. Oktober 2023 bleiben deshalb hier unberücksichtigt. Hiermit befaßt sich der IGH gesondert in einem von Südafrika am 29. Dezember 2023 initiierten Klageverfahren wegen des Genozidvorwurfs gegenüber Israel. In diesem Rahmen sind bereits mehrere Eilentscheidungen ergangen. Darüber hinaus hat der Chefankläger des ebenfalls in Den Haag ansässigen Weltstrafgerichtshofs Haftbefehle wegen des Vorwurfs der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowohl gegen den israelischen Ministerpräsidenten und seinen Verteidigungsminister als auch gegen Führungspersonen der Hamas beantragt.
Im Gutachten stellt der IGH klar, daß die seit 57 Jahren anhaltende Besatzung palästinensischen Territoriums durch Israel in keiner Weise den Rechtsstatus der Okkupation nach Kriegsrecht ändert und damit auch die diesbezüglichen völkerrechtlichen Verpflichtungen Israels weiterhin gelten. Denn normalerweise ist die Okkupation nur für eine zeitlich begrenzte Situation zur militärischen Überwindung eines Machtvakuums gedacht. Mithin kann Israel aus dem langen Zeitraum der Okkupation keine Sonderrechte ableiten, etwa unter Berufung auf eine normative Kraft des Faktischen. Daran erinnern im übrigen alle einschlägigen seit 1967 verabschiedeten UN-Resolutionen, indem sie durchgehend die Bezeichnung „Israel the occupying power“ verwenden.
Daraus folgt vor allem, daß das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser zu respektieren und eine Annexion, das heißt die Aneignung palästinensischen Territoriums rechtlich verboten ist. Das Annexionsverbot sieht das Gericht in weiten Teilen als verletzt an, insbesondere durch die Errichtung der Siedlungen seitens israelischer Bürger auf palästinensischem Gebiet und die in diesem Zusammenhang geschaffene Infrastruktur.
Dazu zählen der auf palästinensischem Gebiet erfolgte Mauerbau und die Ausbeutung palästinensischer Naturressourcen ebenso wie die im Widerspruch zur UN-Gründungsresolution und Resolutionen des UN-Sicherheitsrates von 1967 und 1973 stehende Proklamation ganz Jerusalems zur „ewigen Hauptstadt“ Israels.
Auch die umfassende Anwendung israelischen Rechts in Ost-Jerusalem und seine zunehmende Geltungserstreckung auf die Westbank wäre an dieser Stelle zu nennen. So hat Israel – nach Auffassung des Gerichts – durch seine Politik irreversible Fakten schaffen wollen, die auf die Einverleibung palästinensischer Gebiete in den israelischen Hoheitsbereich hinauslaufen. Damit hat das Land gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot verstoßen, das den gewaltsamen Erwerb fremden Territoriums zwingend untersagt.
In bezug auf die Siedlungspolitik wird im Gutachten dargelegt, daß Israel die Ansiedlung eigener Staatsbürger im Besatzungsgebiet weder erlauben noch durch Anreize fördern darf. Folglich ist die Umsiedlung von Israelis in die Westbank und nach Ost-Jerusalem sowie die staatliche Unterstützung zum Verbleib der Siedler ein Verstoß gegen das Genfer Abkommen zum Schutz von Zivilisten in Kriegszeiten von 1949.
Die mit der Umsiedlung verbundene Enteignung oder Beschlagnahme palästinensischer Grundstücke zugunsten israelischer Siedler verletzen die Haager Landkriegsordnung ebenso wie die bevorzugte Nutzung der dortigen Wasserreserven. Die großangelegte Enteignung von Ländereien und die Verweigerung des Zugangs zu den Naturressourcen beraubt die palästinensische Bevölkerung ihrer Lebensgrundlagen. Das hat deren Vertreibung zur Folge, die zudem oft noch durch Maßnahmen des israelischen Militärs forciert wird. Dies wird ebenfalls als Verstoß gegen das Genfer Abkommen gewertet.
Darüber hinaus stellen die Richter fest, daß es Israel entgegen seiner Verpflichtung als Besatzungsmacht unterläßt, gegen die von Siedlern ausgehende Gewalt gegen Palästinenser vorzugehen. Das Gericht verfolgt deshalb „mit großer Sorge“ Berichte, wonach die israelische Siedlungspolitik seit seinem Gutachten von 2004 über die israelische Mauer erheblich ausgeweitet worden ist. Denn die mit der Besiedlung verbundene Fragmentierung innerhalb der Westbank erschwert die Bildung des Staates Palästina zusätzlich.
Die israelische Gesetzgebung sowie die darauf fußenden Maßnahmen im besetzten palästinensischen Gebiet führten zu einer deutlich schlechteren Behandlung von Palästinensern im Verhältnis zu Israelis. Das Regime der den Palästinensern auferlegten Restriktionen begründe eine systematische Diskriminierung aufgrund der Religion und ethnischen Herkunft.
Damit werden nach Auffassung des Gerichts mehrere Bestimmungen der beiden UN-Menschenrechtskonventionen von 1966 verletzt. Und weil die betreffenden Gesetze und Maßnahmen auf die Beibehaltung einer nahezu kompletten Trennung zwischen Siedlern und Palästinensern zielt, sei dies zugleich als Verletzung des Apartheidverbots der Antirassismuskonvention von 1966 zu werten.
Schließlich gelangt der IGH zu dem Gesamtergebnis, daß die Politik Israels, vor allem die Rechtswidrigkeit seiner fortgesetzten Präsenz in den okkupierten Gebieten eine grobe Verletzung des Völkerrechts ist und somit die völkerrechtliche Verantwortlichkeit nach sich zieht.
Demzufolge verlangt das Gericht von Israel erstens die baldmögliche Beendigung der Präsenz auf palästinensischem Territorium und, zweitens die sofortige Einstellung aller Siedlungstätigkeit. Drittens fordert es die Aufhebung aller Gesetze und Maßnahmen mit diskriminierendem Inhalt und mit dem Ziel der demographischen Veränderung in Palästina und viertens die Wiedergutmachung der Schäden, die durch Unrechtsakte entstanden sind.
Diese Restitution beinhaltet z.B. die Rückgabe der Ländereien sowie sonstigen Vermögens, das seit 1967 widerrechtlich weggenommen wurde. Erforderlich ist somit auch die Rückführung aller Siedler aus den palästinensischen Gebieten sowie die Rückkehr für die seit 1967 von ihren Grundstücken vertriebenen Palästinenser.
Als Rechtsfolgen für alle anderen Staaten sowie für die Uno und die anderen internationalen Organisationen benennt der IGH deren völkerrechtliche Pflicht zur Nichtanerkennung der durch Israel herbeigeführten Lage in Palästina. Vor allem soll nichts unternommen werden, was diesen Zustand noch festigen könnte. Zudem dürfen die von der Uno bisher festgelegten Maßnahmen zur Beendigung dieses Unrecht nicht unterlaufen werden.
Einen besonders hohen Stellenwert hat nach Überzeugung des Gerichts dabei die Verpflichtung aller Staaten zur Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes und des Verbots des gewaltsamen Gebietserwerbs. Speziell der Generalversammlung und dem Sicherheitsrat komme die Aufgabe zu, Entscheidungen zur Beendigung der Lage in den palästinensischen Territorien zu treffen.
Dieser Aufforderung ist die UN-Generalversammlung umgehend nachgekommen, indem sie bereits am 13. Oktober auf einer Sondertagung eine Resolution verabschiedet hat. Darin drückt sie ihre volle Zustimmung zum Gutachten des IGH aus und erklärt die darin enthaltenen Feststellungen zu Forderungen einer Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten selbst. Dabei werden einzelne der im Gutachten formulierten Punkte in der Resolution konkretisiert.
So soll Israel die Okkupation der palästinensischen Gebiete nicht nur – wie im Gutachten ausgeführt – baldmöglichst beenden, sondern bereits innerhalb der nächsten zwölf Monate. Das mit der Stimmenthaltung Deutschlands angenommene UN-Dokument ist zwar rechtlich nicht bindend. Es ist aber – gestützt auf die Autorität des Rechtsgutachtens – von wegweisender politischer Bedeutung, denn es enthält die Eckpunkte für eine Nahost-Friedenslösung.
Der IGH hat in seinem Gutachten in überzeugender Weise die Rechtslage in den besetzten palästinensischen Gebieten dargelegt. Er hat deutlich gemacht, daß der eherne römische Rechtsgrundsatz, daß aus Unrecht kein Recht werden darf, auch im Völkerrecht gilt. Das heißt, daß Israel keinen Nutzen aus der rechtswidrigen Politik der vergangenen Jahrzehnte ziehen darf. Nach dem Gutachten dürfte es künftig noch schwerer fallen, Kritik an völkerrechtswidrigen Akten des Staates Israel einfach mit dem Vorwurf des Antisemitismus zurückzuweisen.
Jetzt wird von Israel eine Umkehr seiner Politik erwartet. Nur so wird sich Israel aus seiner zumeist selbstverschuldeten internationalen Isolierung wieder befreien können. Wie jeder andere Staat hat auch Israel freilich ein Existenzrecht, und zwar in den Grenzen, die bis zum Sechstagekrieg von 1967 galten.
Dies haben auch die palästinensischen Organisationen und Nachbarstaaten zu akzeptieren. Sie haben Angriffe auf die territoriale Integrität Israels zu unterlassen. Und Israel hat das Recht auf Selbstverteidigung bei Verletzungen seiner Souveränität, allerdings unter Beachtung des völkerrechtlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.
Die offensichtliche Mißachtung dieses Prinzips seitens Israels hat – wie die jüngsten Beispiele der israelischen Invasion in Gaza und Libanon zeigen – in der Vergangenheit wiederholt zu gefährlichen Situationen für den Weltfrieden geführt.
Es ist höchste Zeit, diesen tödlichen Kreislauf durch die Aufnahme umfassender Friedensverhandlungen mit dem Ziel einer Zweistaatenlösung zu durchbrechen. Das IGH-Gutachten bietet einen soliden Leitfaden dafür.
Prof. Dr. Gerd Seidel, Jahrgang 1943, Rechtswissenschaftler, war von 1983 bis 2008 Professor für Völkerrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1996 schrieb er mit dem „Handbuch der Grund- und Menschenrechte“ ein Standardwerk seines Fachgebiets.