© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/24 / 01. November 2024

GegenAufklärung
Karlheinz Weißmann

Ostorientierung: „[…] jene bis heute durch die deutsche Rechte geisternde chiliastische Strömung, die im Negativen ein antiwestlicher Affekt ist, im Positiven aber die Sehnsucht, im Jungbrunnen des ‘jungen’ Ostens sich der westlichen Kruste zu entledigen und neue Kraft zu gewinnen“ (Armin Mohler, 1961).

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Angesichts der Vorgänge im Bündnis Sahra Wagenknecht sollte der Begriff „Führerinnenprinzip“ geläufiger werden.

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Das Museum Fenaille in Rodez, einer Kleinstadt am südwestlichen Rand des Zentralmassivs, beherbergt eine der bedeutendsten Sammlungen sogenannter Statuenmenhire. Es handelt sich um behauene Steine aus dem Neolithikum, die in der Regel halbmannshoch sind und wegen der eingravierten oder plastisch hervortretenden Attribute – Waffen, Schmuck, Gürtel – als Darstellungen von Menschen oder Göttern zu betrachten sind. In diesem Sommer hat man außerdem eine Kollektion von Menhiren aus Äthiopien gezeigt. Auf die Bedeutung dieser Kunstwerke hat als einer der ersten der deutsche Völkerkundler Leo Frobenius hingewiesen. Soweit rekonstruierbar, handelt es sich um Bilder von Ahnen oder animistische Symbole. Entstanden sind sie zwischen dem 16. und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Angesichts der formalen Ähnlichkeit mit den europäischen Stücken aus der Vorzeit kommen einem alle Geschichtstheorien absurd vor, die ein allgemeines Gesetz des Fortschritts annehmen.

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Bildungsbericht in loser Folge: Der niedersächsische Philologenverband hat in einer Pressemitteilung über das Ergebnis einer Umfrage berichtet. Danach sind 21 Prozent der befragten Lehrer schon Opfer körperlicher Gewalt geworden, 70 Prozent sahen sich Drohungen, Beschimpfungen oder Beleidigungen ausgesetzt; an den Gesamtschulen lag diese Rate bei 85 Prozent. 70 Prozent halten die geltenden Vorschriften und Schutzmaßnahmen für unzureichend, 40 Prozent verzichten auf eine Meldung, was vor allem darauf zurückzuführen sein dürfte, daß 87 Prozent der Befragten der Meinung sind, daß sie weder durch die vorgesetzte Behörde noch durch das Kultusministerium auf Rückendeckung oder Hilfe rechnen können. Etwa ein Drittel der Befragten erklärte, daß sie angesichts dieser Erfahrungen den Beruf des Lehrers nicht noch einmal ergreifen würden.

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Man muß kein Prophet sein, um vorauszusagen, daß wir im kommenden Jahr – aus Anlaß der Wiederkehr des 8. Mai 1945 – eine neuerliche Debatte über „Niederlage“ oder „Befreiung“ oder irgendetwas dazwischen erleben werden. Angesichts dessen kann es hilfreich sein, sich vor Augen zu führen, daß unser Nachbar Frankreich ähnliche Kontroversen kennt. Die kreisen regelmäßig um die Folgen der alliierten Invasion am 6. Juni 1944, die Rolle der Résistance und die Errichtung einer provisorischen Regierung. Michel de Jaeghere hat in einem Beitrag für Le Figaro Histoire unlängst das Themenfeld dahingehend ausgeweitet, daß er auf die blinden Flecken in bezug auf die Besatzungszeit hinwies. Seiner Auffassung nach müßte dringend geklärt werden, warum das Verhalten bedeutender Köpfe der linken Intelligenz während der Okkupation bis heute in so mildem Licht erscheint: „Niemand warf Sartre vor, daß er seine Stücke von deutschen Offizieren beklatschen ließ, Beauvoir, daß sie für Radio Vichy arbeitete, oder Picasso, daß er viele Nazi-Offiziere in seinem Atelier empfing: In seinem Fall war es ein Beweis dafür, daß Paris ein lebendiges Kunstzentrum blieb. Marguerite Duras war bis zum Frühjahr 1944 Sekretärin der Papierkontrollkommission gewesen, die unter deutscher Kontrolle darüber entschied, wer Bücher drucken durfte und wer nicht. Dies hinderte sie jedoch nicht daran, sich im Namen ihrer Vergangenheit als Widerstandskämpferin aktiv an der Säuberung zu beteiligen.“ Was die Säuberung betrifft, ist es den progressiven Kreisen vor allem darum zu tun, die „wilden Säuberungen“ kleinzureden, also die unkontrollierte Verfolgung, Folterung und Liquidierung von „Verrätern“. Denn dabei fielen einzelne – auch Widerstandskämpfer! – oder ganze Familien zwischen 1944 und 1947 der „Volksjustiz“, das heißt in der Regel kommunistischen Partisanen, zum Opfer, obwohl sie keine Kollaborateure gewesen waren, aber wegen ihrer politischen oder religiösen Überzeugung oder ihrer Klassenzugehörigkeit mißliebig. In den Zusammenhang dieser Auseinandersetzung gehören selbstverständlich auch die Bemühungen von offizieller Seite, die Position der „Minimalisten“ zu stärken, die von höchstens 12.000 Toten in Folge der Épuration ausgehen, während man auf seiten der Rechten bis zu 150.000 Tote annimmt. Letztere dürften mit ihrer Vermutung näher an der Wirklichkeit liegen. Immerhin hat Pierre-Henri Teitgen, Justizminister der Vierten Republik, in einer Sitzung der Nationalversammlung am 16. August 1946 von 105.000 Männern und Frauen gesprochen, die im Zuge der Befreiung ihr Leben verloren.

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Meldung am Morgen: „Deutscher greift vier Menschen mit Messer an“; Meldung am Abend: „Deutscher muslimischer Konvertit greift vier Menschen mit Messer an“ (Die Welt, Online-Ausgabe vom 20. Oktober 2024).

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 15. November in der JF-Ausgabe 47/24.