Er legte den Klavierauszug zur Seite. Keine Spur von Rachsucht gegen Richard Wagners Namen lebte in seinem Herzen. Was er schon seit langem immer wieder geahnt hatte, diese Musik zeigte es ihm klar. Trotz allem Gegensatz: Wenn einer von allen Künstlern sein Bruder war, so er!“
Bis zu diesen befreienden Gedanken läßt der österreichische Schriftsteller Franz Werfel seinen hoch verehrten Giuseppe Verdi fast vierhundert Seiten lang an sich selbst verzweifeln und mit seiner schwindenden Bedeutung in der Musikwelt hadern. Und all das, weil es jenen Richard Wagner gibt, der allenthalben für seine Kompositionen vergöttert wird. Verdi, von dem das Publikum seit zehn Jahren nichts Neues mehr gehört hat, beschließt nun endlich, den Konkurrenten aufzusuchen. Von dieser Begegnung verspricht er sich eine Befreiung von seinem Dämon und ein Aufleben seiner Kreativität. Allerdings kommt er eine Viertelstunde zu spät bei Wagners Domizil an. Der Meister ist tot.
Den Weg bis zu dieser, in letzter Minute durch das Schicksal verhinderten, Zusammenkunft beschreibt Franz Werfel in aller Ausführlichkeit. Er beginnt zur Weihnachtszeit 1882, als Verdi das Fenicetheater betritt und auf – nein, nicht auf Wagner, der gerade eine seiner Sinfonien dirigiert – sondern auf den geschwätzigen, alten Theaterdiener Dario trifft, der ein überzeugter Verdianer ist und den Applaus des Publikums und die Evviva-Rufe für diesen Deutschen mit Unmut zur Kenntnis nimmt.
Später wird Dario noch einmal auftreten und dem Maestro, wie Werfel den Schöpfer der „Aida“ und des „Rigoletto“ fast durchgängig nennt, seine Familie vorstellen. Und schon hier begegnet dem Leser die Vorgehensweise des Autors, Personen einzubringen, die scheinbar nichts mit der eigentlichen Geschichte zu tun haben. Im Fenicetheater, an diesem Abend, könnte Verdi Wagner gegenübertreten und das Wort an ihn richten. Er scheut jedoch zurück und bleibt beobachtend im Dunkel.
Beim Anblick Wagners quälen Verdi selbstmitleidige Gedanken
Nach dem Konzert sieht er Wagner, der die Augen geschlossen hält, an der Seite seiner Frau in einer Gondel vorüberfahren. Er erhebt sich ein wenig von seinem Sitz, um den Deutschen besser betrachten zu können. Verbitterung überkommt ihn: „Das also war der Mann, dessen Name, dessen Wirken, dessen Sein, dessen tausend Schatten ihn seit wenigstens zwanzig Jahren verfolgten. Jetzt kreuzten sich nicht die Blicke, jetzt konnte er sich sattsehen. Wo er in diesen Jahrzehnten nur ein Wort über seine eigene Kunst gelesen hatte, stand genannt oder ungenannt der Name Wagner darin, ihn auszulöschen.“
Verdi spürt die Bitterkeit in seiner Seele. Selbstmitleidige Gedanken quälen ihn: „Zehn Jahre, Jahre des Alterns, die eine Gnade in jeder Sekunde sind, hatte er fortgeworfen. Seit zehn Jahren war er nutzlos, müßig, erbärmlich, tot! Nur tot? Man hatte ihn getötet! Jener dort hatte ihn getötet, der schlummernde, nichtsahnende Feind!“
Es wird ihm bewußt, daß er einzig und allein wegen Richard Wagner in die Lagunenstadt gekommen ist. Bevor er an diesem Abend den Zug nach Mailand nimmt, besucht er noch seinen Freund, den Senator, der den Maestro innig liebt und bewundert. Er lernt bei diesem Kurzbesuch den hundertfünfjährigen Marchese Gritti kennen, dessen stolzes Streben darin besteht, den Tod zu überlisten und der an keinem Abend versäumt, in die Oper zu gehen.
„Der Marchese war“, so schreibt Werfel über den Rekordhalter, „neunundzwanzigtausenddreihundertundsiebenundachtzigmal im Theater gewesen, hatte neunhunderteinundsiebzig verschiedene Werke gehört …“ Anwesend sind auch des Senators Söhne, Renzo und Italo. Letzter wird in der Geschichte weiter eine Rolle spielen. Als Liebhaber der schönen und wahrscheinlich von ihm geschwängerten Bianca. Vor allem jedoch als Antagonist zu seinem Vater. Italo ist ein glühender Bewunderer Richard Wagners. Dieser junge Mann, so läßt uns Werfel wissen, „tat in den letzten Monaten nichts anderes, als die deutsche Sprache studieren und in den Klavierauszügen von Tristan und Walküre schwelgen“. Und in jeder freien Minute sucht er, „erregten Herzens wie ein schüchterner Bursche“, die Piazza auf, immer in der Hoffnung Richard Wagner auf dem Weg in ein Kaffeehaus zu sehen. Und sieht er Wagner, den seine Anhänger wie Satelliten umkreisen, das Kaffeehaus betreten, folgt er ihm, um ihm nahe sein zu können.
Verdi verläßt Venedig, kommt jedoch zur Karnevalszeit zurück. Man schreibt das Jahr 1883. Im Gepäck trägt er das begonnene Manuskript seiner geplanten Oper „König Lear“ (die unvollendet bleibt) mit sich. Denn nur in Venedig und in der Konfrontation mit Wagner, so glaubt er, kommt seine musikalische Kraft zurück. Bei den Feierlichkeiten zum Karneval, bei denen Arien aus Aida dargebracht werden, sieht er Wagner wieder. Wagt aber erneut nicht ihn anzusprechen, denn wie ihm scheint, beurteilt der Deutsche seine Musik abfällig.
Bis der Maestro also den letzten, entscheidenden Schritt wagt, läßt Werfel ihn über viele Seiten weiterhin von Selbstzweifeln geplagt sein, durch Venedig spazieren und die eigentümlichsten Begegnungen machen. So „im farbenfrischen, lärmfreudigen Leben der schmerzhaftesten Armut“, wohin ihn der Theaterdiener Dario führt, um ihm seinen verkrüppelten, aber sangesbegabten Sohn Mario vorzustellen. Durch die Lieder, die der Junge auf Drängen seines Vaters improvisiert, wird Verdi wieder die Größe und Tiefe der italienischen Musik bewußt.
Dann ist da der erfolglose Komponist Sassaroli, der ihn heimlich verfolgt und beobachtet. Dieser dem Wahnsinn verfallene Mann macht Verdi für seinen Mißerfolg verantwortlich. „Tag und Nacht träumte Sassaroli von der großen Begegnung mit seinem Feinde, und stündlich wuchs seine Kühnheit.“ Verdi bannt die Gefahr, die von dem Irren ausgeht, indem er ihm zusagt, seinen Verleger zu bitten, die Werke Sassarolis wohlwollend zu prüfen. Ist das Zusammentreffen mit dem verrückten Komponisten für Verdi ein Blick in einen Zerrspiegel? Vielleicht, denn es führt dazu, daß Verdi von dem Vorhaben, Wagner zu besuchen, wieder absieht.
Werfels Bestseller begründete eine Renaissance der Opern Verdis
Ein Mensch, der großen Eindruck auf den Maestro macht und den er sogar regelrecht liebgewinnt, ist der erfolglose Mathias Fischböck. Er lernt (ohne seinen berühmten Namen preiszugeben) ihn, seine Frau und sein Söhnchen Hans durch Doktor Carvagnos kennen, den Ehemann der schönen Bianca. Der todkranke Fischböck sieht sich als Erneuerer der Musik. Alles bisher Vollbrachte lehnt er ab – bis auf Johann Sebastian Bach und Dieterich Buxtehude. Aufsässig und unbeugsam vertritt der junge Mann die atonale Zwölftontechnik, die aber eigentlich erst 1920 entwickelt werden wird. Verdi hilft der verarmten Familie Fischböck, auch weil ihm der kleine Hans so sehr ans Herz gewachsen ist, daß er sogar überlegt, ihn zu adoptieren.
Letztendlich gibt Verdi, der nach kurzer, aber intensiver Krankheit wieder gesundete, das Lesen der „Tristan“-Partitur, die Italo heimlich in dessen Zimmer in der Pension deponiert hat, den Mut, Wagner aufzusuchen. „Er legte den Klavierauszug zur Seite. Keine Spur von Rachsucht gegen Richard Wagners Namen lebte in seinem Herzen …“
Doch nun ist es zu spät. Wagner ist tot.
Wer war der größere Komponist? Verdi oder Wagner, die sich im wahren Leben nie begegnet sind? Darüber stritten sich Opernliebhaber im letzten Drittel des neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Franz Werfel präferierte eindeutig Giuseppe Verdi. Sein 1924 beim neugegründeten Zsolnay-Verlag herausgegebenes Buch „Verdi. Roman der Oper“ wurde seinerzeit zum Bestseller und begründete eine Renaissance der Opern Verdis. Heute, hundert Jahre später, dürfte das Buch in seiner Neuauflage nicht an den Erfolg von damals heranreichen. Der Streit, wer der größere Komponist von beiden ist, hat sich gelegt und auch der mitunter weitschweifige Stil des 1945 verstorbenen Franz Werfel wird wohl nicht mehr den heutigen Geschmack treffen.
Foto: Palazzo Vendramin Calergi in Venedig, Sterbeort von Richard Wagner (Illustration 1883): Verdis Äußerungen zu Wagner schwanken zwischen Bewunderung und Ablehnung
Franz Werfel: Verdi. Roman der Oper. Mit einem Nachwort von Jens Malte Fischer. Paul Zsolnay Verlag, München 2024, gebunden, 480 Seiten, 28 Euro