© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/24 / 01. November 2024

Die westliche Dominanz brechen
BRICS-Treffen in Kasan: Immer mehr Länder wollen eine multilaterale Weltordnung
Paul Leonhard

Kein Ausnahmezustand mehr in Kasan. Die Schüler sitzen wieder in ihren Schulen, die Studenten in den Hörsälen, die Angestellten in den Büros. Die Sperrungen auf den Straßen sind aufgehoben. Die 24 Staats- und Regierungschefs und die nach Angaben der Nachrichtenagentur Prensa Latina mehr als 20.000 Delegierten aus 36 Ländern und sechs internationalen Organisationen, die hier vom 22. bis 24. Oktober unter dem Motto „Stärkung des Multilateralismus für eine gerechte globale Entwicklung und Sicherheit“ am 16. Gipfeltreffen der BRICS-Staaten teilgenommen haben, sind in ihre Heimatländer zurückgekehrt. In der Millionenstadt herrscht wieder geschäftiger Alltag.

Der russische Präsident Wladimir Putin konnte mit dem Gipfeltreffen unter Beweis stellen, daß er international keineswegs isoliert ist, wie es von westlicher Seite häufig behauptet wird. Sogar UN-Generalsekretär Antonio Guterres reiste an und ließ sich beim Händedruck mit Putin ablichten.

Aber das Treffen war mehr als reine Symbolpolitik. Vielmehr wurde deutlich: Es gibt eine wachsende Zahl von Staaten, die die westliche Dominanz auf der Welt nicht mehr akzeptieren und ein Gegengewicht aufbauen wollen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan drückte diese Haltung wie folgt aus: „Wir leben nicht mehr in einer Welt, die schwarz-weiß ist, in der man sich für einen von zwei Blöcken entscheiden muß.“ Die Türkei gehört trotz Nato-Mitgliedschaft zu den mehr als 30 Staaten, die sich für einen Beitritt zu den Brics interessieren.

Putin warnt vor zu schnellem Wachstum

Ursprünglich gegründet wurde das Bündnis 2006 von Brasilien, Rußland, Indien und China. 2010 kam Südafrika hinzu. Die Anfangsbuchstaben der fünf Länder verleihen den BRICS ihren Namen.  Anfang des Jahres traten zudem Ägypten, Äthiopien, Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate bei. Die Mitgliedsstaaten repräsentieren nach Angaben des Wissenschaftlichen Dienstes im EU-Parlament gut 41 Prozent der Weltbevölkerung – die G7 (USA, Deutschland, Kanada, Frankreich, Großbritannien, Italien und Japan) dagegen nur zehn Prozent – und stehen für rund 37 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (in Kaufkraft berechnet), die G7 für knapp 30 Prozent. Etwa 43 Prozent der weltweiten Ölförderung finden laut dem Portal Statista in BRICS-Staaten statt.

Obwohl Putin sich gegenüber einem zu schnellen Wachstum skeptisch zeigte – „wir müssen die Balance beibehalten und dürfen keine Abstriche bei der Effizienz machen“ –,wurde auf dem Gipfel die Aufnahme von 13 assoziierten Mitgliedern beschlossen: Algerien, Bolivien, Indonesien, Kasachstan, Kuba, Malaysia, Nigeria, Thailand, Türkei, Uganda, Usbekistan, Vietnam und Weißrußland. Eine assoziierte Mitgliedschaft ist keine Vollmitgliedschaft, stellt aber einen Schritt in Richtung größerer Zusammenarbeit dar. Die Aufnahme Venezuelas wurde offenbar nach einem Veto Brasiliens, so zitiert die brasilianische Online-Zeitung Brasil de Fato diplomatische Quellen, gestrichen.

Ein großes Anliegen der teilnehmenden Länder war die Aufhebung von einseitigen Handelsbeschränkungen, die den Regeln der Welthandelsorganisation zuwiderlaufen. „Wir sind zutiefst besorgt über die störende Wirkung rechtswidriger einseitiger Zwangsmaßnahmen, einschließlich illegaler Sanktionen, auf die Weltwirtschaft, den internationalen Handel und das Erreichen nachhaltiger Entwicklungsziele“, heißt es im Abschlußkommuniqué des Gipfels, der Kasaner Erklärung. Derartige Maßnahmen würden die UN-Charta, das multilaterale Handelssystem, die Nachhaltigkeits-, Entwicklungs- und Umweltabkommen untergraben sowie sich negativ auf die Wirtschaft, auf Wachstum, Energie, Gesundheit und Ernährungssicherheit auswirken und die Armut verschärfen.

Gedeutet werden kann diese Forderung als Zeichen für das große Interesse der Schwellen- und Entwicklungsländer Afrikas, Asiens und Lateinamerikas, sich nicht länger von ehemaligen Kolonialmächten bevormunden zu lassen. Im BRICS-Bündnis hoffen sie, einen schlagkräftigen Fürsprecher zu finden.

Neben wirtschaftlichen Aspekten war auch der Krieg in der Ukraine Thema. Deutliche Worte dazu wählte der chinesische Präsident Xi Jinping. „Wir müssen drei Prinzipien respektieren: keine Ausweitung des Schlachtfelds, keine Eskalation der Kämpfe und keine Provokationen von einer der beiden Seiten“, insistierte er. China und Brasilien hätten in Zusammenarbeit mit anderen Ländern im globalen Süden eine Gruppe „Freunde für den Frieden“ gegründet, um die Ukraine-Krise zu lösen. Deren Ziel sei ist, mehr Stimmen zusammenzubringen, die sich für den Frieden einsetzen. Die Mehrzahl der Staaten hinterließ indes nicht den Eindruck, den russisch-ukrainischen Kämpfen besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

Derweil räumen viele westliche Beobachter den BRICS nur geringe Zukunftschancen ein. In ihren Augen sind die politischen und wirtschaftlichen Interessen der Mitgliedstaaten schlicht zu unterschiedlich, als daß sich das Bündnis zu einem echten Machtfaktor entwickeln könnte. Das gelte speziell für die beiden Schwergewichte China und Indien – ungeachtet der Einigung der beiden Staaten im seit Jahre schwelenden Grenzstreit im Himalaya, den beide kurz vor Beginn des Gipfels beilegten.  

„In gewisser Weise ist es gut für den Westen, daß China und Indien sich nie über etwas einigen können, denn wenn die beiden es wirklich ernst meinten, hätten die BRICS enormen Einfluß“, hatte kurz zuvor etwa der britische Ökonom Jim O’Neill gegenüber der Agentur Reuters gesagt. Skeptisch zeigte er sich deshalb auch beim Ziel, die Abhängigkeit vom Dollar zu reduzieren, das innerhalb der BRICS eine zentrale Rolle spielt. China und Indien hätten dafür zu unterschiedliche wirtschaftliche Interessen, wiederholte er. 

Zentrales Ziel: Eine Alternative zum Zahlungssystem Swift finden

Um wirtschaftlich unabhängiger vom Westen zu werden, etwa Sanktionen umgehen zu können, streben die BRICS eine Alternative zum Swift-Zahlungssystem und den Aufbau einer gemeinsamen Bank an. Laut der Kasaner Erklärung favorisieren die Teilnehmerländer ein grenzüberschreitendes Zahlungssystem unter Verwendung lokaler Währungen bei Finanzoperationen zwischen den BRICS-Ländern und ihren Handelspartnern.  Aus „technischer Sicht können wir nicht länger warten“, mahnte Brasiliens Präsident Lula da Silva an. Indiens Regierungschefs Narendra Modi bot als Lösung das Unified Payments Interface (UPI) an. 

Vor allem Rußland und China, letzteres größter Handelspartner für mehr als 120 Volkswirtschaften, favorisieren den Aufbau eines eigenen BRICS-Zahlungssystems, das unabhängig ist von der Leitwährung US-Dollar und damit immun gegen westliche Sanktionen. Ein Ausschluß des Dollars aus den gegenseitigen Finanztransaktionen wäre Putin zufolge schon ein Gewinn. 

Chinas Xi Jinping bot den anderen Staaten des Bündnisses in einer vielbeachteten Rede an, mit seiner „hochwertigen Produktionskapazität“ Unterstützung in den Bereichen grüne Industrien, saubere Energie und grüner Bergbau zu leisten, um zur „grünen Entwicklung in der gesamten Energiekette beizutragen“. Weiter verwies er auf das kürzlich gegründete China-BRICS-Zentrum für künstliche Intelligenzentwicklung und -kooperation und kündigte an, die Innovationskooperation mit allen BRICS-Ländern zu vertiefen, um das Potential von KI zu nutzen. Auch werde ein BRICS-Zentrum für internationale Forschung zu Tiefseeressourcen sowie für Kooperation in Sonderwirtschaftszonen, für die Industrie-Kapazitäten der BRICS und das gemeinsame digitale Ökosystem-Kooperations-Netzwerk eingerichtet. 

Ferner sagten die Staaten in der Kasaner Erklärung Unterstützung für das BRICS-Forschungs- und Entwicklungszentrum für Impfstoffe und für die Weiterentwicklung des Frühwarnsystems zur Prävention schwerer Infektionskrankheiten zu. Positive Resonanz fand die russische Initiative, eine BRICS-Getreidebörse zu etablieren und auf andere Agrarsektoren auszuweiten. Außerdem soll es eine Investitionssplattform und Rohstoffbörsen geben, um die Abhängigkeit von westlichen Handelsplattformen zu verringern.

Für Spott in den deutschen Medien sorgte dagegen das Bekenntnis zu einer internationalen Allianz für Großkatzen, die auf Initiative Indiens in die Abschlußerklärung aufgenommen wurde. Darin würdigten die Staaten Bemühungen zum Schutz seltener Arten und ermutigen ihre Mitgliedsländer, beim Schutz der Großkatzen zusammenzuarbeiten.

Allerdings gab es auch westliche Stimmen, die davor warnten, die BRICS zu unterschätzen. 

Man habe den Eindruck, die westlichen Länder hätten keine Strategie, um dem Phänomen BRICS zu begegnen, kritisierte beispielsweise der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, der inzwischen als Botschafter in Brasilien fungiert. Wenn der Westen nichts unternehme, könne es irgendwann ein böses Erwachen geben, monierte er im Deutschlandfunk.

Das nächste BRICS-Gipfeltreffen findet 2025 in Brasilien statt.

Foto: Gegengewicht zum Westen: Der chinesische Staatschef Xi Jinping, Rußlands Präsident Wladimir Putin und Indiens Premierminister Narendra Modi bauen ein eigenes Bündnis