© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/24 / 01. November 2024

„Zehntausende in die Arbeitslosigkeit“
Autoindustrie I: Die Volkswagen-Radikalkur läßt den Konflikt zwischen Management und Betriebsrat erstmals eskalieren
Paul Leonhard

Die Hiobsbotschaften kommen erneut aus der VW-Zentrale. Der Konzern plant, mindestens drei seiner zehn deutschen Werke zu schließen und die übrigen deutlich zu schrumpfen, indem Modelle, Stückzahlen, Schichten und ganze Montagelinien reduziert werden. So sollen Einsparungen von vier Milliarden Euro erzielt werden. Keines der Werke sei mehr sicher, warnt Daniela Cavallo, Chefin des Konzernbetriebsrats: „Es ist das feste Vorhaben, die Standortregionen ausbluten zu lassen und die klare Absicht, Zehntausende Volkswagen-Beschäftigte in die Massenarbeitslosigkeit zu schicken.“ Niemand der 120.000 deutschen VW-Automobilbauer – egal ob in angelernter Tätigkeit oder mit Hochschulabschluß – könne sich hier noch sicher fühlen.

Wer bleiben darf, dem drohten Gehaltskürzungen, eine Nullrunde in den kommenden zwei Jahren und ein Ende der monatlichen Zulage von aktuell 167 Euro. Zwar kommentierte das VW-Management bis Redaktionsschluß diese Aussagen nicht, aber selbst Olaf Scholz zeigte sich besorgt: Falsche Managemententscheidungen aus der Vergangenheit dürften nicht zu Lasten der Arbeitnehmer gehen, sei die Überzeugung des Kanzlers, sagte Vizeregierungssprecher Wolfgang Büchner. Es gehe darum, „Arbeitsplätze zu erhalten und zu sichern“.

Während VW laut Betriebsratsangaben beabsichtigt, die Gehälter aller Beschäftigten um zehn Prozent zu kürzen, fordert der Betriebsrat ein Lohnplus von sieben Prozent. Die Gewerkschaft IG Metall und deren Verhandlungsführer Thorsten Kröger zeigten sich vor der zweiten Verhandlungsrunde über den VW-Haustarif kampfbereit. Ebenso Betriebsratschefin Cavallo, die unmißverständlich drohte: „Legt euch nicht mit uns, mit der VW-Belegschaft an. Ihr steht ganz kurz vor der Eskalation!“

Volkswagen, jahrzehntelang ein Symbol der Sozialen Marktwirtschaft, steht ein nie erlebter Aderlaß bevor. Bislang konnte dies die IG Metall verhindern. Noch vor drei Jahren, als der damalige VW-Chef Herbert Diess angeblich 30.000 Stellen abbauen wollte, wurde das durch den Betriebsrat und das Land Niedersachsen, das über ein Fünftel der Stimmrechtsanteile verfügt, verhindert. Der woke E-Auto-Fetischist Diess mußte 2022 gehen, die hohen Energie- und Arbeitskosten und die falsche und zu teure Modellpalette sind geblieben.

Wer einen neuen VW kaufen will, muß das Einkommen aus 9,6 Monaten Erwerbstätigkeit aufwenden, 1974 waren es nur 4,6 Monate, rechnet das Stuttgarter Marktforschungsunternehmen DAT vor. Bei den unbeliebten E-Autos der ID-Reihe sind es sogar 11,4 Monate. Kein Wunder, daß sich immer weniger Käufer einen VW leisten können und wollen. Hohe Löhne bei vergleichsweise niedrigen Arbeitszeiten – und dennoch ordentliche Renditen für die Aktionäre, das funktioniert nicht mehr, seit Berlin und Brüssel die Transformation in die klimaneutrale Zukunft verlangen.

Staatliche E-Auto-Quoten verderben das gewohnte Geschäft

Zumal inzwischen das staatskapitalistische China mit subventionierten E-Autos auch die westlichen Märkte erobern will. Die hochpreisigen Benziner „made in Germany“ haben zwar noch ein hohes Prestige, aber das bröckelt, und staatliche E-Auto-Quoten verderben das Geschäft. Die Marke VW könnte zum Symbol für den Niedergang der deutschen Autoindustrie werden. Die VW Group mit ihren insgesamt zehn Marken fuhr 2023 mit 16,6 Milliarden Euro allerdings Nettogewinn ein.

Auch BMW und Mercedes haben Gewinnwarnungen herausgegeben, die Porsche-Aktie liegt im Minus, Audi schließt sein Werk in Brüssel, Ford zieht sich zurück, zahlreiche Autozulieferer sind bereits pleite, und bei Opel könnte der amerikanisch-französisch-italienische Mutterkonzern Stellantis jederzeit den Stecker ziehen. Denn in Italien streiken die Autoindustrie-Beschäftigten erstmals seit zwei Jahrzehnten landesweit. Der weltweit viertgrößte Autohersteller (unter anderem Citroën, Chrysler, Dodge, Fiat, Jeep, Maserati, Peugeot) hat wie VW und Mercedes auf „Electric only“ gesetzt – doch die Kunden wollen das nicht. Nun sollen Montagewerke in Niedriglohnländer verlagert werden.

Vorstandschef Carlos Tavares beklagt die EU-Emissionsvorschriften, die die Produktion nicht nur in Italien unrentabel machen. Nur wenn genügend E-Autos verkauft werden, können die utopischen Brüsseler CO₂-Werte im Flottendurchschnitt eingehalten werden – ansonsten werden Strafzahlungen in vierstelliger Höhe für jeden Verbrenner fällig. Tavares verlangt daher zusätzliche staatliche Anreize, um die Nachfrage nach den ungeliebten E-Autos anzukurbeln. Einfacher wäre es, die EU-Richtlinien einfach zu streichen – doch VW-Betriebsratin Cavallo stößt ins gleiche Horn: „Wir brauchen einen umfassenden Plan aus der Politik, wie die Elektromobilität endlich zum Fliegen kommt.“

Ralf Brandstätter, Chinavorstand des VW-Konzerns, deutete aber einen Sinneswandel an: Die Benziner Magotan (asiatische Passat-Limousine) und Lavida (Ex-Jetta) werde man „mit Plug-in-Technologie nach chinesischem Standard ausstatten“, verriet der frühere VW-Markenvorstand dem Handelsblatt. Bis 2027 wolle man 40 neue Modelle in China einführen – nur 20 davon seien reine E-Autos und Hybridmodelle. Das klingt nach Abschied vom „Electric only“-Dogma, das Weltmarktführer Toyota nie verfolgt hat. Doch davon ist in Deutschland und Europa aus ideologischen Gründen noch nicht die Rede. Deswegen wird vor der nächsten VW-Tarifrunde weiter über Werkschließungen und Massenentlassungen spekuliert. Und so geht selbst in Wolfsburg die Angst um, ob der Stadt nicht ein ähnliches Schicksal bevorsteht wie der einstigen US-Autometropole Detroit.

 volkswagen-group.com/de/investoren-15766

 www.igm-bei-vw.de

Foto: Betriebsratschefin Daniela Cavallo, IG-Metaller Thorsten Gröger: Ein böses Erwachen