© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/24 / 01. November 2024

Düstere Aussichten
Freihandel: Die Regierungsreisen nach Indien helfen der europäischen Exportindustrie wenig
Albrecht Rothacher / Jörg Fischer

Neben Olaf Scholz besuchten im Oktober mit Annalena Baerbock, Bettina Stark-Watzinger, Hubertus Heil und Robert Habeck auch vier seiner Minister Indien. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des 1,4-Milliarden-Einwohner-Landes liegt nur bei einem Fünftel der EU, aber die Ober- und Mittelschicht sind begehrte Konsumenten der Exportindustrie, und der Arbeitsminister will mit über 30 Anwerbemaßnahmen „qualifizierten Inder*innen“ in Deutschland neue Erwerbsperspektiven bieten.

Da Verteidigungsminister Boris Pistorius krankheitsbedingt absagen mußte, versprach der Kanzler höchstpersönlich den Indern neue militärische Kooperationen und Rüstungslieferungen, um die größte Demokratie der Welt nicht vollends an die BRICS-Gruppe um China und Rußland zu verlieren. Weniger harmonisch verlief Habecks U-Bahnfahrt in Delhi mit Handelsminister Piyush Goyal, der aber auch schon vor den deutsch-indischen Regierungskonsultationen den deutschen Protektionismus sowie die stockenden Freihandelsgespräche mit der EU bitterlich beklagte.

Allenfalls bilaterale Abkommen mit ausgewählten Partnern

Brüssel bestehe auf „irrationalen Standards“ und „unfairen Regeln“, speziell der CO₂-Grenzausgleich (CBAM) werde ohne Abkommen die indischen Exporte in die EU zusätzlich verteuern – doch den Green Deal will nur die AfD abschaffen. Der künftige EU-Handelskommissar, der Slowake Maroš Šefčovič soll nun mit Indien verhandeln. Doch dessen marode Staatsindustrien und mit „fossilen“ Energien hergestellter Stahl oder Zement passen schwerlich ins „klimaneutrale“ Europa. Auch Lieferketten-Schikanen und Entwaldungsrichtlinien behindern den Handel nicht nur mit Indien.

Doch der wachsende Verlust der Exportmärkte in China und den USA, die sich durch Importbarrieren und Staatssubventionen protektionistisch abschotten, macht auch der gebeutelten deutschen und EU-Exportindustrie schwer zu schaffen. Um sich vom chinesischen Markt, bisher dem größten Hoffnungsträger, zu diversifizieren, braucht sie neue zollfreie Absatzmärkte. Zwar gibt es die Welthandelsorganisation WTO in Genf. Doch wird von den USA ihre Schiedsstelle durch die Nichternennung von Richtern blockiert, so daß auch China, Indien und Rußland glauben, sich an keine WTO-Regeln mehr halten zu müssen. Die multilaterale Doha-Freihandelsrunde ist tot, und die Ernennung der nigerianischen Ex-Finanzministerin Ngozi Okonjo-Iweala zur WTO-Generaldirektorin hat nichts gebracht.

Die Alternative für die EU war es, mit der Verhandlungsmacht von fast 450 Millionen Verbrauchern bilaterale Freihandelsabkommen abzuschließen. Bis vor zehn Jahren funktionierte dies noch gut: der EWR mit Norwegen, Island und Liechtenstein, bilaterale Abkommen mit der Schweiz, die Zollunion mit der Türkei, Assoziationsabkommen mit dem Westbalkan und den Mittelmeeranrainern, Freihandelsabkommen mit Japan, Südkorea, Vietnam, Singapur sowie mit Mexiko, Zentralamerika, Kolumbien, Peru, Ecuador und Chile. Mit Ach und Krach gelang es noch 2017, das Ceta-Abkommen mit Kanada vorläufig in Kraft zu setzen.

Dann klappte fast nichts mehr. Donald Trump brach die Verhandlungen zum transatlantischen Abkommen (TTIP) ab. Die ebenso protektionistischen Demokraten unter Joe Biden zeigten keine Neigung zur Wiederaufnahme. Mit Australien scheiterten die Verhandlungen am Beharren der EU am Schutz für Herkunftsbezeichnungen wie „Feta“, „Parmigiano“ und „Prosecco“. Zudem werden die Verhandlungen zunehmend von Zusatzforderungen wie Menschen- und Arbeitsrechten und zum Klimaschutz belastet. Themen, die die meisten Länder und nicht nur Minister Goyal als „grünen Kolonialismus“ ansehen.

So wurde zwei Jahrzehnte am Mercosur-Abkommen mit Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay verhandelt, das mit 715 Millionen Verbrauchern die größte Freihandelszone der EU wäre – mit einem gewaltigen Potential für unsere Chemie-, Maschinenbau- und Autoindustrie. Doch eine Allianz von Greenpeace bis zu den Bauern blockiert die Annahme des 2019 geschlossenen Abkommens. Seine Rindfleischquote für die EU (mit 7,5 Prozent Importzoll) beträgt nur 99.000 Tonnen für alle vier Mercosur-Länder gemeinsam. Das wären 220 Gramm pro EU-Fleischesser. Daher verlieren die Mercosur-Partner die Geduld. Sie könnten auch mit China, tönt es aus Buenos Aires und Brasília, das sich um Regenwälder wenig schert.

Auf EU-Seite merkt man den Abgang der freihändlerisch gesonnenen pragmatischen Briten schmerzlich. Handelsfeindliche Argumente setzen sich dank der Südländer im Ministerrat und der Kommissionsführung immer mehr durch. So gelang es während der Brexit-Verhandlungen nicht einmal, eine Zollunion mit Großbritannien durchzusetzen, das 47 Jahre lang alle EU-Verordnungen umgesetzt hatte. So befürchtete Brüssel, über die innerirische Grenze könnte billige Importware auf den EU-Binnenmarkt kommen. Ein Argument war auch, daß Damen-Hygieneartikel in England steuerbefreit sind und deshalb geschmuggelt werden könnten. So wurden Regeln ohne Zölle und aufwendigen Papierkrieg verhindert.

EU-Außenhandelspolitik in der protektionistischen Defensive?

In Summe gelang der EU im Jahrfünft der Herrschaft von Ursula von der Leyen nur ein einziges Abkommen, nämlich mit dem Commonwealth-Mitglied Neuseeland mit nur 5,4 Millionen Einwohnern am andern Ende der Welt. Die Umleitung der Handelsströme vom chinesischen Markt mit 1,4 Milliarden Einwohnern sieht wohl anders aus.

Es muß jedoch nicht immer gleich zollfreier Freihandel sein. Abkommen zur gegenseitigen Anerkennung von Normen, Zertifizierungen, Standards und Tests würden teure Zollformalitäten und technische Vorschriften, als sogenannte nichttarifäre Handelshindernisse, vermindern. Aber dann drohen amerikanische Chlorhühner und der genetisch veränderte Mais von den US-Farmen, die uns möglicherweise vergiften. So scheint der reale Schwerpunkt der künftigen EU-Außenhandelspolitik eher in der protektionistischen Defensive zu liegen.

Wie im Kommissions-Weißbuch zur wirtschaftlichen Sicherheit dargestellt, geht es dabei um Handelsschutzinstrumente, wie die jüngsten Strafzölle für chinesische E-Autos, Exportkontrollen, Investitions-Screening und Gegenmaßnahmen bei Staatssubventionen in Drittstaaten, wie den USA und China, und Diskriminierungen im internationalen Beschaffungswesen. Schön und gut, solche Marter-Instrumente in der nunmehr gesetzlosen Handelswelt in der Hinterhand zu haben. Doch sieht eine offensive Handelsstrategie, wie sie die EU bis 2010 noch gepflegt hatte, deutlich anders aus. Für die stagnierende deutsche und EU-Wirtschaft, die seit Jahren ständig Weltmarktanteile verliert, sind dies schlechte Nachrichten.


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