© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/24 / 01. November 2024

Verhandeln im Standgas
Österreich: Nicht wie üblich der Wahlsieger, sondern die Verlierer sollen nun über eine Regierung sondieren
Rober T Willacker

Mit Beginn dieser Woche verstummten die Koalitionsgespräche in Wien für einige Tage, denn der geschäftsführende Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) urlaubte mit der Familie. Sonderlich eilig hat man es also nicht mit der Regierungsbildung in Österreichs Hauptstadt. 

Das Land hat seit der Nationalratswahl Ende September in puncto Koalitionsfindung zwar noch keine nennenswerten Fortschritte gemacht, gleichzeitig jedoch in mehrfacher Hinsicht Neuland betreten. Mit einem bemerkenswerten Ergebnis von knapp 29 Prozent der Stimmen ging die rechte FPÖ unter ihrem Vorsitzenden Herbert Kickl erstmals in der Geschichte der Zweiten Republik bei einer Nationalratswahl als Sieger hervor. 

Die Blockadehaltung wird letztlich nur der FPÖ nützen

Doch Kickl, der für seine Partei als Erstplazierter das Kanzleramt beansprucht, stand einer entscheidenden Hürde gegenüber: Die anderen Parlamentsparteien – die konservative ÖVP, die sozialdemokratische SPÖ, die sozialliberalen NEOS und die ökoradikalen Grünen – machten deutlich, daß sie sich eine Zusammenarbeit mit der FPÖ unter Kickls Führung nicht vorstellen können. „Herbert Kickl polarisiert wie nur wenige Politiker. Er genießt fast universelles Vertrauen in der eigenen Wählerschaft, aber großes Mißtrauen in allen anderen Wählergruppen. Die meisten Österreicher sind aktuell der Meinung, daß diese Abgrenzung auf lange Sicht Kickl zum Vorteil gereichen wird“, erläutert Meinungsforscher Johannes Klotz von OGM gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. 

Kurzfristig führt die Blockadehaltung der anderen Parteien dazu, daß Bundespräsident Alexander Van der Bellen die traditionelle Vorgehensweise bei der Regierungsbildung durchbrach und nicht dem Wahlsieger den Regierungsbildungsauftrag erteilte, sondern zunächst zu Sondierungen zwischen FPÖ, ÖVP und SPÖ aufrief. Schlußendlich erhielt dann Mitte Oktober nicht Kickl, sondern der geschäftsführende Kanzler Nehammer durch den Bundespräsidenten den Auftrag, eine Koalition zu schmieden. 

Für die FPÖ und ihre Wähler ist die Entscheidung des Bundespräsidenten nur schwer nachvollziehbar und sorgt deshalb für reichlich Unmut. Kickl selbst äußerte öffentlich scharfe Kritik an der Vorgehensweise Van der Bellens und interpretierte den Ausschluß der FPÖ aus den Koalitionsgesprächen als Demokratieverweigerung. 

Laut Meinungsforschern hat Kickl dabei die Wählerschaft auf seiner Seite: mit einer relativen Mehrheit von 40 Prozent bevorzugen die Österreicher eine FPÖ-ÖVP-Koalition vor allen anderen Varianten, so eine aktuelle OGM-Umfrage für den Kurier. Für Unverständnis sorgt die Verweigerungshaltung der ÖVP auch deshalb, weil diese derzeit in drei Bundesländern gemeinsam mit der FPÖ regiert; möglicherweise kommt bald ein viertes Bundesland hinzu, denn in Vorarlberg finden nach der jüngsten Landtagswahl aussichtsreiche Koalitionsgespräche zwischen beiden Parteien statt. 

Der stellvertretende oberösterreichische Landeshauptmann und stellvertretende FPÖ-Bundesvorsitzende Manfred Haimbuchner hierzu im Gespräch mit der jungen freiheit:  „In den Ländern mit FPÖ-Regierungsbeteiligung regieren bürgerliche Vernunft und wirtschaftlicher Weitblick. Die ÖVP wäre gut beraten, sich nun auf ihre Verantwortung für die Republik zu besinnen und die Rolle als Juniorpartner anzunehmen, die ihr der Wähler zugewiesen hat. Stattdessen startet man ein politisches Himmelfahrtskommando in Form einer österreichischen Ampelregierung, um auf dem Kanzlersessel kleben bleiben zu können – das ist kindliches Trotzverhalten und zeugt von staatspolitischer Unreife.“

Von solch deutlichen Worten offenbar unbeirrt streben Nehammer und seine zweitplazierte ÖVP nun Koalitionsgespräche mit der drittplazierten SPÖ unter dem bekennenden Marxisten und Links-ausleger Andreas Babler an. Beide Parteien weisen zusammen jedoch nicht nur die denkbar knappste Mehrheit von lediglich einem Mandat auf, sondern auch teils erhebliche politische Differenzen. Jahrzehntelang hatte man die österreichische Politik als Großparteien gemeinsam geprägt, verfolgt inzwischen in vielen Fragen aber deutlich divergierende Linien, insbesondere in Bereichen der Sozialpolitik, Wirtschaft und der Migration. Um dennoch eine tragfähige Mehrheit zu erreichen, müßte eine dritte Partei ins Boot geholt werden: Die sozialliberalen NEOS, die sich für wirtschaftliche Reformen und eine stärkere Integration in die EU aussprechen, oder die Grünen, die einen strikten Fokus auf Klimapolitik legen und zuletzt mit der ÖVP regierten. 

Eine neue Regierung vor dem Jahreswechsel ist unwahrscheinlich 

Beide Optionen hätten das Potential, eine Dreierkoalition zu formen, die der Regierung langfristige Stabilität bringen soll – so zumindest der Wunsch von ÖVP-Chef Nehammer. OGM-Prokurist & Data Scientist Johannes Klotz erklärt die Sachlage gegenüber der JF wie folgt: „Das einigende Band zwischen diesen beiden Parteien (ÖVP und SPÖ, Anm.) war nie der inhaltliche Konsens, sondern immer die wechselseitige Machtaufteilung. Das ist aber genau jener Punkt, an dem die NEOS nur schwer mitmachen können, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Abgesehen davon sind schon Zweier-Koalitionen recht schwierig, das zeigt die jüngere Geschichte mit einigen vorzeitigen Neuwahlen in Österreich – wie schwierig müssen da erst Dreier-Koalitionen sein? Da genügt schon ein Blick nach Deutschland.“

Offiziell gehen die Koalitionsgespräche nach einer kurzen Urlaubspause nun am 4. November weiter. Erst dann werden verbindliche Zeit- und Themenpläne für konkrete Verhandlungen geschmiedet. Es gilt deshalb als unwahrscheinlich, daß sich noch vor dem Jahreswechsel eine neue Regierungskoalition formiert.