© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/24 / 25. Oktober 2024

Ein Dorf überlebt die DDR
Ein bemerkenswertes Porträt über das Elb-Grenzdorf Lütkenwisch, wo vor fünfzig Jahren ein DDR-Flüchtling getötet wurde
Jörg Kürschner

Kann ein Dorf, 1502 erstmals urkundlich erwähnt, „ermordet“ werden, wie die Autorin Kerstin Beck pointiert formuliert? Ihre Emotionen sind verständlich, hat sie doch, Jahrgang 1955, erleben müssen, daß ihr Heimatdorf, direkt an der Elbe und damit an der „Staatsgrenze West“ der DDR gelegen, auf der Abschußliste der Behörden stand. Lebten in dem idyllischen Dorf in den fünfziger Jahren noch rund 190 Menschen, erlebten den Mauerfall 1989 nur noch 16 Einwohner. In den vierzig Jahren kommunistischer Diktatur wurden mehr als vierzig Gebäude abgerissen. 

Immer wenn ein Lütkenwischer den in der Sperrzone gelegenen Ort verließ oder starb, wurde dessen Haus plattgemacht. Schule, Feuerwehr, Gaststätten, Mühle, Schmiede, Konsum fielen nach und nach der Spitzhacke zum Opfer. Für 1992 war die endgültige Vernichtung des kleinen Ortes vorgesehen, wie Dokumente belegen. „Ziehen sie doch endlich weg, damit wir bald ihr Haus abreißen können“, zitiert Beck die Bürgermeisterin noch 1988 im Gespräch mit Einwohnern. Doch bevor Lütkenwisch verschwand, verschwand die DDR.

Beck hat wohl schon als junges Mädchen das himmelschreiende Unrecht gespürt, das ihren Alltag in der Abgeschiedenheit des strengen Grenzregimes geprägt hat. Sie führte Tagebuch, sammelte akribisch Fotos sowie 300 Briefe der Verwandtschaft und fotografierte trotz strikten Verbots den schleichenden Niedergang von Lütkenwisch. Wurde wieder ein Haus dem Erdboden gleichgemacht, Beck zückte ihre Kamera und drückte ab. Die Verfasserin beschreibt die Veränderungen in ihrem Dorf altersgemäß, also zunächst kindlich-naiv, später nachdenklich. „Mutti sagt: ‘Komm, wir wollen zu Guhls gehen, denn in einigen Tagen geht es nicht mehr’.“ Die kleine Kerstin versteht ihre bis dahin heile Welt am beschaulichen Elbufer nicht mehr. „Warum soll gerade dieses schöne Haus, von dem aus man durch die Linden immer zur Elbe sehen kann, abgerissen werden?“, fragt sie ihre Mutter.

Die DDR perfektionierte die Abriegelung Lütkenwischs

Doch Kerstin Beck muß sich noch von vielen prachtvollen alten Bauernhäusern verabschieden, denn die Staatsmacht kennt kein Pardon. „Erforderlich ist aber auch, daß aus den Grenzkreisen eine Anzahl von Personen für die Zeit bis zur Einheit Deutschlands vorübergehend umgesiedelt werden“, heißt es bereits 1952 in der „Argumentation für das Sperrgebiet“, unterzeichnet von der „Ausweisungskommission“. 

Anfang der fünfziger Jahre und erneut 1961 mußten etwa 12.000 Menschen an der knapp 1.400 Kilometer langen innerdeutschen Grenze ihre Häuser verlassen, wurden ins DDR-Hinterland deportiert, weil die SED sie als politisch unzuverlässig einstufte. „Aktion Ungeziefer“ oder „Aktion Kornblume“ waren die internen Tarnnamen der generalstabsmäßig angelegten Operationen. Die Zwangsaussiedlungen trafen auch Lütkenwisch im 500-Meter-Schutzstreifen, der Zehn-Meter-Kontrollstreifen verlief entlang der Dorfstraße auf dem Deich. Grenzpolizisten kontrollierten an den Zufahrtsstraßen die Passierscheine der weniger werdenden Einwohner und seltenen Besucher, die nur in Ausnahmefällen ins Dorf gelassen wurden.

Im Laufe der Jahrzehnte perfektionierte der Unrechtsstaat die Abriegelung Lütkenwischs, das zunehmend von Grenzern, Polizisten und Stasi-Mitarbeitern dominiert wurde. Besonders schmerzt die Autorin der Bau eines neuen Zaunes, der den Zugang zum Elbvorgelände versperrt. Von heute auf morgen ist Schluß mit Angeln, dem Beobachten der Schiffe. Aber vor allem: „Ich kann Schnackenburg nicht mehr sehen. Dabei ist es doch so wichtig, jeden Tag nach Schnackenburg herüberzuschauen.“  

Das niedersächsische Schnackenburg, ein kleines mit Stadtrecht ausgestattetes Dorf, ist der Sehnsuchtsort der Lütkenwischer. Ganz nah und doch so fern. Heute verbindet wieder eine Fähre die beiden Orte. Am östlichen Anleger, dem „Hans-Georg-Lemme-Platz“, wird daran erinnert, daß der 21jährige Lemme vor fünfzig Jahren, im August 1974, bei dem Versuch getötet wurde, über die Elbe nach Schnackenburg zu schwimmen. Der Maschinenschlosser, der gerade seinen Wehrdienst ableistete, wurde von der Besatzung eines Patrouillenbootes entdeckt und zur Umkehr aufgefordert. Lemme, ein ausgebildeter Rettungsschwimmer, ignorierte den Befehl und wurde von dem Boot überfahre und von der Schiffsschraube zerfleischt. Das Landgericht Schwerin sprach den Bootsführer 1998 frei, da ihm ein Tötungsvorsatz nicht nachgewiesen werden konnte. „Das könnt ihr doch nicht machen. Ich bin doch einer von euch“, waren Lemmes letzte Worte, erinnerte sich der Angeklagte im Gerichtssaal.

Heute liegt Lütkenwisch am Grünen Band, das vom Ostseestrand am Priwall bis zum Dreiländereck bei Hof im Vogtland reicht. Beck, eine ausgebildete Museumspädagogin, informiert Radfahrer über die Geschichte ihres Dorfes. Ein Café lädt zum Verweilen ein. Mit freiem Blick nach Schnackenburg. Fast nichts erinnert mehr an die schlimmen Jahre der kommunistischen Herrschaft. In Lütkenwisch wird schon lange kein Haus mehr „ermordet“. 


Kerstin Beck: Es war einmal … in Lütkenwisch. Ein Prignitzdorf überlebt die DDR-Grenze. Gabriele Schäfer Verlag, Herne 2020, broschiert, 200 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro

Foto: Wachboot der DDR mit Grenzsoldaten an der Grenzanlage in Lütkenwisch an der Elbe 1987: Gnadenlos mit dem Boot über-fahren und von der Schraube zerfleischt