© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/24 / 25. Oktober 2024

Der große Traum
Kino I: Der diesjährige Cannes-Gewinner „Anora“ ist ein Anti-#Metoo-Film / Männer bekommen es mit der Angst zu tun
Dietmar Mehrens

Allein die Schrift auf den Dollarnoten, allein der Glaube an die eigene erotische Ausstrahlung, allein die Gnade eines unverhofften Reichtums: es ist eine durchaus unchristliche Interpretation der protestantischen Grundpfeiler sola scriptura, sola fide und sola gratia, mit der die Animierdame Anora (Mikey Madison) durch ihr verruchtes Leben tappt. Der Film, der dieses Leben porträtiert und dafür vor fünf Monaten bei den 77. Filmfestspielen im französischen Cannes mit der Goldenen Palme belohnt wurde, kommt am Jahrestag von Martin Luthers Thesenanschlag, also am Reformationstag, in unsere Kinos. Er trägt den Titel seiner Heldin und verhöhnt das Klischee der osteuropäischen Oligarchen-Männlichkeit, für die das legendär gewordene Oben-ohne-Angelfoto von Wladimir Putin aus dem Jahre 2017 als Symbol gelten kann. „Anora“ heißt also das an mehr als einer Stelle die Grenzen zur Farce überschreitende Halbweltporträt von Sean Baker (Regie und Drehbuch) und sie, die Titelheldin, dominiert den Film ebenso wie ihre männlichen Mitspieler nach Belieben.

Als Prostituierte für eine Woche exklusiv gebucht

Der Zuschauer lernt Anora kennen in einem anrüchigen Amüsierlokal, wo sie ebenso keß wie kühl kalkulierend auf ihre Kunden losgeht und ihre Reize ausspielt. Ihre teuer zu bezahlende Spezialität: ein „Schoßtanz“. Als der stinkreiche und kaum dem Kurzehosenalter entwachsene Iwan (Mark Eydelshteyn), Kosename: Wanja, sie zum Schnäppchenpreis von 10.000 Dollar für eine Exklusiv-Woche bucht, mit ihr und seinen Freunden durch die angesagtesten Clubs von New York tingelt, die Nacht zum Tag und die guten Sitten zu einer gerupften Vogelscheuche macht, glaubt sie das große Los gezogen zu haben. Obwohl sie eigentlich nur eine gekaufte Prostituierte ist, spürt Anora, die sich lieber kurz Ani nennt, die Macht, die sie durch sexuelle Hörigkeit über Wanja gewonnen hat. Als Trumpf-As erweist sich, daß sie wegen ihrer Abstammung Wanjas Muttersprache versteht.

Die beiden reisen nach Las Vegas. Dort macht Wanja ihr, vom letzten Vollrausch offensichtlich noch nicht ganz ernüchtert, einen Heiratsantrag. Ani nimmt an. Zurück in Brooklyn, kündigt die Stangentänzerin ihre Arbeit, denn sie hat, da ist sie sich sicher, einen riesigen Goldfisch an der Angel.

Reißt den russischen Aufpassern irgendwann der Geduldsfaden?

Doch als die drei von Wanjas Oligarchen-Eltern als Aufpasser engagierten Russen Wind von der Eheschließung bekommen, ist die Party vorbei: Toros (Karren Karagulian), der resolute Anführer des Dreigestirns, hat den Auftrag, die Ehe um jeden Preis annullieren zu lassen. Als der frisch Vermählte hört, daß seine Mutter einen Flug von Rußland nach New York gebucht hat und in Kürze bei ihm auf der Matte stehen wird, ergreift er die Flucht. Ani, die sich den Lakaien des Oligarchen widersetzt, wird gefesselt. Aber in der Opferrolle wird sie nicht bleiben. Denn für die Suche nach Wanja wird sie noch gebraucht. Und was die Annullierung der Ehe anbelangt, da ist die Messe in Anis Augen noch lange nicht gelesen ...

Leider ruiniert Sean Baker seinen ansonsten recht gelungenen Film durch die vielen expliziten Szenen zu Beginn. Den Blick in die schummerigen Séparées, in denen Ani und ihre kaum bekleideten Kolleginnen die von ihnen abgeschleppten Männer zum Glühen bringen, hätte er dem Zuschauer ruhig ersparen können. Daß die „Professionellen“ einem unmoralischen Gewerbe nachgehen, hätte man auch verstanden, ohne zehn Minuten in den schäbigsten Ecken eines Amüsier-Etablissements zubringen zu müssen. Und daß der Taugenichts Wanja sexhungrig ist, hätte man dem Film auch abgenommen, wenn die Kamera ein paar Diskretionsregeln eingehalten hätte. Für die erste halbe Stunde des Films gilt daher definitiv: Weniger wäre mehr gewesen.

Trotzdem ist „Anora“ ein Werk von beeindruckender Intensität, das als Geschichte mit den mustergültig ausgeführten Kunstgriffen Fallhöhe und Peripetie (dramatische Wendung) blendend funktioniert. Daß der Konflikt zwischen der Halbweltgöre und den harten Jungs vom Russenclan sich ganz anders entwickelt, als man es vom Genre des Gangsterfilms – man denke etwa an Naomi Watts in „Tödliche Versprechen“ (2007) oder Lily James in „Baby Driver“ (2017) – erwarten kann, macht den besonderen Reiz dieser fesselnden und dabei immer wieder auch kurios-komischen „Pretty Woman“-Persiflage aus. Wenn man der Handlung nach dem Auftauchen der russischen Schergen geradezu elektrisiert folgt, liegt das vor allem am explosiven Spiel von Mikey Madison als Kratzbürste Ani. In ihren emotionalen Auftritten entfaltet die Darstellerin eine solche Wucht, daß man förmlich an der Leinwand klebt. Große Spannung ergibt sich aus der Frage, ob den russischen Aufpassern nicht irgendwann doch der Geduldsfaden reißen und sich die Spannung in einem Quentin-Tarantino-haften Gewaltausbruch entladen wird. Doch der Regisseur macht sich einen Spaß daraus, Zuschauererwartungen zu enttäuschen. Die Entladung erfolgt im verstörenden Finale tatsächlich – aber völlig anders als erwartet.

Natürlich verdankt Sean Baker die Goldene Palme, die die Jury vielleicht besser Hauptdarstellerin Mikey Madison zuerkannt hätte und nicht dem Film an sich, hauptsächlich der Emanzipationsdoktrin, der feministischen Strampel-dich-frei-Moral, die „Anora“ durch seine phänomenale Titelheldin transportiert. Im Grunde handelt es sich hier um einen #Metoo-Film mit umgekehrten Vorzeichen. Was sie in diesem Film erleben, bietet für die vermeintlich harten Hunde in Diensten der russischen Plutokratie nämlich hinreichend Anlaß für eine #Metoo-Kampagne. Unter dem „hashtag“ müßte stehen: Auch ich war einer hysterischen Drama-Königin nicht gewachsen – wer solidarisiert sich? Kinostart ist am 31. Oktober 2024

Foto: Anora (Mikey Madison) mit ihrem Mann Iwan (Mark Eydelshteyn) und Freunden