© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/24 / 25. Oktober 2024

Kundi und der gläserne Mensch
Ausstellung: In einer Sonderschau arbeitet das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden seine DDR-Geschichte auf
Paul Leonhard

Hände nicht gewaschen? Zähne nicht geputzt? Keine Chance, Gesundheitsdetektiv Kundi sieht dank seines Fernrohrs jedes Kinderzimmer und ist sofort zur Stelle, um das ungezogene Kind wieder auf den rechten Weg zu bringen. So erzogen, wuchsen Generationen zu ordentlichen Bürgern heran, die letztlich allerdings zu Revolutionären gegen ihre wohlmeinende Regierung wurden. Und so verschwand Kundi als Maskottchen des Deutschen Hygiene-Museums gleich nach der Wiedervereinigung in der Asservatenkammer des Hauses, wobei niemand es so richtig vermißte. Und es wird auch nicht wieder reaktiviert, wie Museumsleiterin Iris Edenheiser anläßlich der Eröffnung der neuen Sonderausstellung versichert. Dabei hätten Kundi und sein Zauberfernrohr schon während der Überwachungen in der Corona-Pandemie gut zum Geschehen gepaßt.

„VEB Museum. Das Deutsche Hygiene-Museum in der DDR“ nennt sich die Schau, auch wenn das Haus natürlich nie ein volkseigener Betrieb gewesen ist, sondern als dem Gesundheitsministerium nachgeordnetes „Institut für Gesundheitserziehung“ im Arbeiter-und-Bauern-Staat eine Sonderrolle spielte. Dabei hatte es zwei Aufgaben zu erfüllen: die Menschen gesundheitlich aufzuklären und Devisen zu erwirtschaften. Letzteres übernahm ein Produktionsbetrieb für anatomische Modelle und andere medizinische Lehr- und Aufklärungsmittel, wozu auch Wanderausstellungen zählten. Bekannteste Exportgüter dürften der Gläserne Mensch – eine 1930 erstmals der Weltöffentlichkeit präsentierte dreidimensionale Figur mit durchsichtiger Hülle – und die Gläserne Kuh gewesen sein.

Erinnerung an die jüngste deutsche Diktatur

Auch deswegen wurde das von angloamerikanischen Bomben schwer getroffene Museumsgebäude im Dresdner Stadtzentrum schnell wieder aufgebaut. In den 1950er und 1960er Jahren spielten vor allem die seit nationalsozialistischer Zeit bestehenden guten Kontakte in Länder im Nahen Osten sowie die sich aus der Kolonialherrschaft befreienden Staaten Afrikas und Asiens eine Rolle – das Museum war ein wichtiges Instrument im innerdeutschen globalen Wettbewerb um diplomatische Anerkennung.

Inszeniert wurde die jetzige Sonderschau, mit der die Museumsleitung auch ihre Sicht auf die Kultur der Erinnerung an die jüngste deutsche Diktatur darstellen möchte, quasi als Werksbesichtigung mit den vier Abteilungen „Netzwerk“, „Macht“, „Produktion“ und „Klubhaus“ in 16 Räumen. Vom Musterraum führt der Rundgang in die Werkstatt, das Versandlager und weiter zum Direktorenzimmer. Auch der Frauenruheraum wurde nicht vergessen. Breiter Raum wird dem Festsaal gewidmet, in dem beispielsweise Parteitage der CDU stattfanden, mit dem sich für unzählige Dresdner aber vor allem Konzerte mit Westkünstlern (Erste Allgemeine Verunsicherung, Klaus Lage) verbinden.

Indem sie einen Einblick in den Mikrokosmos des Dresdner Museums in all seinen Facetten geben, wollen die Ausstellungsmacher nach eigener Aussage auch zum „generationsübergreifenden Gespräch über das Leben im sozialistischen deutschen Staat und über den Systemwechsel nach 1989“ anregen. Geradezu liebevoll werden die „Errungenschaften“ der DDR in Erinnerung gerufen. So findet sich beispielweise ein für die damalige Zeit typisches Mittagsgericht als Ausstellungsexponat wieder – auch weil es aus der Moulagenwerkstatt des Hauses stammt. Diese fertigte mehr als hundert Lebensmittelprodukte der DDR an, die in den 1980er Jahren als Anschauungsmaterial dienten. Und wem die Farben des sozialistischen Kantinen-essens kräftiger in Erinnerung sind, dem geben die Kuratoren recht: „Das Aussehen ist weniger dem Gericht geschuldet als dem Alterungsprozeß des Exponats.“

Wie überhaupt die ganze Schau auch irgendwie als Wiedergutmachung gedacht zu sein scheint. Sie leckt teilweise zu geflissentlich die Wunden der geschundenen Seelen der DDR-Bewohner und weint (was ist hier der Bezug zu Dresden?) sogar dem abgerissenen Palast der Republik in Berlin hinterher. Wer als Besucher viel Zeit mitbringt, kann sich zahlreiche Video-Interviews mit „Zeitzeug:innen“ anhören, darunter auch „Dresnder:innen aus migrantischen Communities“, womit die Ausstellungsmacher dem eigentlich vom sächsischen Kultusministerium untersagten Genderdeutsch frönen. Nicht thematisiert werden die einstigen Proteste der Dresdner gegen in die Stadt geholte (weil Devisen bringende) Algerier und deren Übergriffe auf Frauen.

Wie die DDR war auch das Deutsche Hygiene-Museum zuletzt auf Verschleiß gefahren worden. Notreparaturen wurden nie zu Ende gebracht. Und war es auch kein VEB, so erfuhren die 300 Institutsmitarbeiter 1990 doch am eigenen Leib, was Transformation bedeutet. Die erfolgreiche Lehrmittelproduktion – der Schatz des Hauses – wurde einschließlich Warenzeichen und internationaler Kundenkartei 1991 an die Konkurrenz in Hamburg verschleudert, statt künftig beispielsweise als gemeinnützige GmbH die Finanzierung des Museums zumindest mitzutragen – die Hintergründe sind bis heute ein unaufgearbeitetes Kapitel des Ausverkaufs der DDR.

Dem Fortschritt zugewandt oder dem, was Museumsleitung und Kuratoren darunter verstehen, zeigt sich auch diese Schau. Wie ja das Deutsche Hygiene-Museum in seiner Geschichte stets jedem Staat treu diente und dient, einschließlich des Zutrittsverbots für Andersdenkende zu Veranstaltungen. Direktorin Edenheiser verhedderte sich denn auch prompt auf der Pressekonferenz im neumodischen und schwer verständlichen Genderdeutsch und mußte sich die Frage eines Journalisten gefallen lassen, ob sie überhaupt wisse, wovon sie rede, sprich, ob sie und die anderen Mitwirkenden in der DDR sozialisiert seien, zumal sie immer von „ostdeutsch“ spreche. Edenheiser ihrerseits, 1977 im sächsischen Torgau geboren, studierte in Leipzig und Grenada Sozial- und Kulturanthropologie, Religionswissenschaften und Hispanistik und war zuletzt stellvertretende Direktorin am Museum Europäischer Kulturen der Staatlichen Museen zu Berlin. Mehr noch als ihre Vorgänger will sie das Dresdner Haus zu einem „Ort der Begegnung“ und der Diskussion machen.

Die DDR-Rückschau „VEB Museum“ könnte dabei ein Meilenstein sein. Thomas Lindenberger, Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung der TU Dresden, das seit mehr als dreißig Jahren die Geschichte des SED-Regimes erforscht, bescheinigt ihr und ihrem Team, sich der Thematik „mutig, originell und innovativ“ gestellt und auch für den nicht in der DDR aufgewachsenen Besucher nachvollziehbar gemacht zu haben, wie dieser Staat in seiner Vielfalt und mit seinen Widersprüchen funktionierte: „Das Leben in der DDR war Tag für Tag mit dem politischen System verbunden“, doch es habe nicht nur Schergen und Unbeteiligte gegeben: „Viele Menschen führten auf eine individuelle Art und Weise ein sinnvolles Leben in der DDR“, und der inszenierte Betrieb des VEB Museums eigne sich als „ein Kosmos im kleinen, der das Funktionieren der DDR im großen nachvollziehbar macht“. Dazu tragen auch die zahlreichen, geradezu liebevoll zusammengetragenen Exponate bei, zu denen sogar ein aus Riesaer Streichholzschachteln zusammengeklebtes Aufbewahrungskistchen für Schrauben und Muttern zählt.

Untrennbar mit der Geschichte des Hygiene-Museums ist das Schicksal eines 63 Quadratmeter großen Wandbildes im Treppenhausfoyer verbunden, das zumindest in Teilen wieder sichtbar gemacht wurde und dessen Schöpfer inzwischen zu den renommiertesten (und teuersten) Künstlern weltweit zählt: die 1956 entstandene Diplomarbeit „Lebensfreude“ von Gerhard Richter, damals Student an der Dresdner Hochschule der Bildenden Künste, mit heiter anmutenden Szenen aus dem sozialistischen Alltag. 1979 wurde es übermalt, und Richter, 1961 in den Westen geflüchtet, verweigerte nach 1990 lange Zeit eine Wiedersichtbarmachtung, bis Edenheiser ihn im 90. Lebensjahr doch dafür gewinnen konnte: „Die partielle Freilegung“ unter zehn Farbschichten sei ihr sehr wichtig gewesen, so die Museumsdirektorin: „Ich hätte wenig Sinn darin gesehen, das Gemälde ganz aufzumachen und damit auch wieder die Spuren der letzten Dekaden zu verwischen.“


Variante des Propagandaplakats zum 20. Jahrestag der SED­-Gründung (o.), Stickteppich „Gastfreundschaft“: Eine Werksbesichtigung in vier Abteilungen 

Die Ausstellung „VEB Museum“ im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, Lingnerplatz 1, ist noch bis zum 17. November täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Besuchertelefon: 0351 / 4846-400

Der broschierte Katalog mit 224 Seiten und 256 farbigen Abbildungen kostet 20 Euro. www.dhmd.de/ausstellungen/veb-museum

„Kundi“, Ausstellungsmodell der Leitfigur des Deutschen Hygiene-Museums, 1983: Entwurf: Richard Hambach (1917–2011)