© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/24 / 25. Oktober 2024

Wenn Regeln außer Kraft gesetzt werden
Einstürzende Demokratiekulissen: Deutschland
Thorsten Hinz

Der vor 34 Jahren erfolgte Beitritt der Deutschen Demokratischen zur Bonner Republik und der Umzug der Regierung und des Parlaments nach Berlin haben keine Berliner Republik hervorgebracht. Der Begriff bezeichnete die Vorstellung von einem Staat, der im Innern freiheitlich und demokratisch verfaßt und mit klaren rechtsstaatlichen Regeln einschließlich Abwehrrechten der Bürger gegen die potentielle Übergriffigkeit des Leviathans ausgestattet ist. In den Zustand vollständiger Souveränität eingetreten, sollte er imstande sein, sein Selbstinteresse zu definieren und durch umsichtiges, kluges, vorsichtiges Handeln nach außen zu wahren.

Die Erwartung wurde enttäuscht. Entstanden ist aber auch kein zweites Weimar. Was sich abzeichnet, ist die Verfertigung einer Erfurter Republik, die das mit Hypermoral kontaminierte Staatsverständnis der späten Bundesrepublik mit der ideologischen Besessenheit und der repressiven Praxis der DDR vereint. 

Die konstituierende Sitzung des Thüringer Landtags am 26. September war in dieser Hinsicht außerordentlich eindrucksvoll. Das Plenum wurde zum Tollhaus, wobei die CDU, die Gutgläubige weiterhin für eine bürgerliche Kraft halten, die Führung übernahm. Der konturenlose CDU-Spitzenmann Mario Voigt, der mit dem Vorwurf konfrontiert ist, ein Plagiator zu sein und sich zu Unrecht mit akademischen Titeln zu schmücken, blieb ruhig. Als parlamentarische Rampensau profilierte sich der Geschäftsführer der Fraktion, der 37jährige Andreas Bühl, der dem Alterspräsidenten Jürgen Treutler (AfD) immer wieder ins Wort fiel und aus dem Konzept brachte, wobei sein Erregungspegel im auffälligen Kontrast zum ruhigen Auftritt Treutlers stand. Theatralisch die Arme nach oben werfend und von „Machtergreifung“ schwadronierend, führte er sich auf wie ein hyperventilierender Enkel der „Omas gegen Rechts“.

In dem Zusammenhang ist es nützlich zu wissen, daß es Bühl im zarten Alter von 22 Jahren zum Thüringischen Inlandsgeheimdienst zog, wo er von 2009 bis 2013 im Bereich der „Extremismusprävention“ arbeitete. Auf der Webseite des Landtags wird das vornehm mit „tätig im Landesdienst des Freistaats Thüringen“ umschrieben.

Es ging darum, den Wahlmodus für den Landtagspräsidenten zu verändern, in dem üblicherweise die stärkste Fraktion ihren Kandidaten zur Abstimmung stellt. Kurz vor der konstituierenden Sitzung des Landtags hatte die noch geschäftsführende Landtagspräsidentin Birgit Pommer (Die Linke), einem Antrag von CDU und BSW folgend, eine geänderte Tagesordnung verbreitet, in der die Änderung der Geschäftsordnung der Wahl des neuen Landtagspräsidenten vorangestellt wurde. Es kam zum Eklat. Das Landesverfassungsgericht erklärte in einem 36seitigen, mit zahlreichen Fußnoten und Verweisen versehenen Urteil die Änderung für rechtens. Begründet wurde das – verkürzt gesagt – mit der Souveränität des gewählten Parlaments über die hergebrachte Konvention: Bei seinem „erstmaligen Zusammentritt befindet sich der Landtag in seinem ‘Naturzustand’. Zur Herstellung seiner Arbeitsfähigkeit muß er sich zunächst eine eigene Organisation geben.“ 

Das kann man so sehen – oder auch nicht, denn – so stellte ein rechtskundiger Anonymus im Netz fest – „wenn alle Abgeordneten in einen unbefleckten Landtag einziehen, in dem sie sich Tagesordnung und Geschäftsordnung selbst geben, wie kann es dann sein, daß der Ausgangspunkt des gesamten Streites eine am 19. September 2024 auf den Weg gebrachte veränderte Tagesordnung ist, in der eine bestehende Tagesordnung (ein Widerspruch zum richterlichen Naturzustand) verändert und durch eine von Verschwörern lancierte Tagesordnung (abermals im Widerspruch zum richterlichen Naturzustand) ersetzt wird?“

Es gibt weitere, schwerwiegende Kritikpunkte, doch noch gewichtiger als die juristischen Feinheiten ist etwas anderes. Gesetze, Verträge, Verfassungen, Geschäftsordnungen bestehen nicht nur aus Buchstaben, sondern atmen auch einen Geist. Damit angesprochen ist der Unterschied zwischen legal und legitim. Das heißt, was juristisch machbar ist, kann ethisch verwerflich sein. Man muß deswegen keinen Vergleich zur DDR ziehen, die sich offen zur „Klassenjustiz“ als Instrument der Machtausübung und zur Bekämpfung und Vernichtung politischer Gegner bekannte.

Hannah Arendt spitzte den Konflikt sogar zu dem Bonmot zu, daß eine Mehrheit ganz demokratisch und legal beschließen könne, eine Minderheit umzubringen. So weit muß man, wie gesagt, wirklich nicht gehen. Es genügt die Feststellung, daß bei der Rechtsfindung immer auch gesellschaftliche, politische, mediale Kräfteverhältnisse eine Rolle spielen. Weiterhin stellt sich die Frage, ob ein derart ausführliches, ausgeklügeltes Urteil tatsächlich in den nur 24 Stunden ausformuliert werden konnte, die zwischen dem Antrag der CDU auf einstweilige Anordnung und ihrer Verkündigung verstrichen. Ob es nicht eher der Lebenswahrscheinlichkeit entspricht, daß die lärmende Erregung im Plenum, der provozierte Eklat, die Unterbrechung der Sitzung, der Antrag und der Gerichtsbeschluß einem vorgefertigten Drehbuch folgten.

Mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hat sich das Kartell der Altparteien eine Scheinalternative erschaffen. Systemtheoretisch gesprochen, entspricht der Siegeszug des BSW der sogenannten Autopoiesis: Ein System erhält und stabilisiert sich, indem es aus sich selber heraus neue Elemente produziert. Das BSW, das sich als frische Kraft empfohlen hatte, und die AfD verfügen im Erfurter Landtag über 47 der 88 Sitze – eine satte Mehrheit, um die Verfahrenstricks der Altparteien zu neutralisieren. Das BSW hätte also erklären können, daß die AfD für sie ein unversöhnlicher politischer Gegner bleibt, sie die Ausgrenzung aber für undemokratisch hält und ablehnt. Stattdessen  haben sie sich voll ins Schmierentheater eingebracht.

Thüringen weist bereits seit längerem politische und verfahrenstechnische Besonderheiten auf. Ein gewählter Ministerpräsident mit FDP-Parteibuch wurde 2019 nach dem Machtwort einer CDU-Kanzlerin zum Rücktritt genötigt, und die Landes-CDU sah sich danach in der Pflicht, fünf Jahre lang eine stramm linke, rot-rot-grüne Minderheitsregierung im Amt zu halten.

Mit Stephan Kramer wurde ein Mann zum Verfassungsschutzpräsidenten ernannt, dessen fachliche und charakterliche Eignung von Anfang an zweifelhaft war und der sich erwartungsgemäß als Anti-AfD-Aktivist hervortut. Ein Weimarer Amtsrichter, der Restriktionen des Corona-Maßnahmenstaates gegen Schüler außer Kraft zu setzen wagte, wurde mit Hausdurchsuchungen und einem Verfahren wegen Rechtsbeugung überzogen. Ministerpräsident Bodo Ramelow bekannte 2015 öffentlich, die Grenzöffnung hätte ihm den schönsten Tag seines Lebens beschert, und bekräftigte dies mit einem „In schā’a llāh“. Darüber hinaus forderte er, die Flüchtlingshilfe langfristig zu finanzieren. „Der Soli sollte weitergeführt und als Integrations- und Flüchtlingsbetreuungssoli umgebaut werden.“

Die Vorgänge in Thüringen sind ein Konzentrat dessen, was im Großen, auf der Bundesebene, geschieht. Die vereinte Linke in Thüringen hat unter Einschluß der CDU im Zeitraffer nachgeholt, was sich im Westen schleichend vollzog, und in der Manier des Klassenstrebers sogar noch überboten.

Das Wort „Wahlergebnis“ hat einen Doppelsinn. Zum einen den numerischen, zum andern den politisch bilanzierenden. Für die Kartellparteien stellt das Thüringer Wahlergebnis die niederschmetternde Bilanz einer verheerenden Regierungspolitik dar. In der AfD als der Partei mit dem nunmehr größten Wählerzuspruch tritt ihnen das eigene Versagen als Gestalt gegenüber, als ein unheimlicher, steinerner Gast. Weil jedes vernünftige Argument sich gegen sie selbst wendet, ist die politische Ratio für sie nicht anwendbar. Also greifen sie zum Mittel des Exorzismus. Der Verfassungsschutz, die Medien stehen seit jeher Gewehr bei Fuß. Weil das nicht mehr ausreicht, werden die Regeln geändert, um das Wahlergebnis außer Kraft zu setzen. Und falls das immer noch nicht reicht, verbietet man eben die Partei.

Von der alten, der westdeutschen Bundesrepublik hieß es, sie sei wirtschaftlich ein Riese, (außen)politisch ein Halbstarker und militärisch ein Zwerg. Ein militärischer Zwerg ist sie geblieben, politisch zählt sie heute gleichfalls zu den Kleinwüchsigen. Wirtschaftlich degeneriert sie zum Halbstarken. Um so lächerlicher wirkt ihr moralisches Auftrumpfen. Es macht sie gegenüber dem Ausland unbeliebt, lächerlich und zur Beute der moralischen Erpressung.

Das Übel wird vor allem mit den Grünen verbunden. Das ist insofern berechtigt, als sich bei ihnen Inkompetenz und moralische Hybris besonders eng verbinden. Aber das Übel beschränkt sich nicht auf sie. Es war eine CDU-Kanzlerin, die die Energiesicherheit zuerst in Frage stellte. Auch die Grenzöffnung 2015 geht auf ihr Konto. Wer sich über den katastrophalen Zustand der Deutschen Bahn, der Straßen und Brücken in Deutschland beschwert, sollte daran denken, daß das Verkehrsministerium über viele Jahre eine Domäne der CSU war. Die Spitzel- und Überwachungspraktiken werden unter einem FDP-Justizminister perfektioniert. Der neueste Clou ist das geplante Delikt der „Gemeinwohlgefährdung“, das auch auf verbaler Ebene möglich sein soll.  Davon würden vor allem „Medienschaffende“, „ehrenamtlich Tätige in der Flüchtlingshilfe“ und natürlich auch Politiker profitieren. Der neue Straftatbestand wäre geeignet, legitime Machtkritik noch rigoroser abzuwürgen. Anders weiß die politisch Klasse, die das Politische mit Formeln wie „Doppelwumms“, „Turbo“, „Bunt statt braun“, „Willkommenskultur“ ins Infantile und Sentimentale rückt, sich den Zweifeln an ihrem Handeln nicht mehr zu erwehren. Ach ja, zu allem Überfluß werden wir von einer „Fortschrittskoalition“ regiert. Der Schwäche des Staates nach außen entspricht eine zunehmende Aggressivität nach innen, gegen die eigene Bevölkerung. Die Gefahr, wegen Volksverhetzung und bald auch wegen Gemeinwohlgefährdung angeklagt zu werden, ist, so scheint es, das letzte Privileg, über das der Deutsche im eigenen Land noch verfügt. 

Um das Handeln und die Sichtweise von Politik und Medien, ihren Starrsinn, ihre Destruktivität zu verstehen, muß man versuchsweise sich in sie hineinversetzen. Robert Habeck hat von Wirtschaft und Energie keine Ahnung, aber er ist klug genug, um inzwischen einzusehen, daß seine Politik dem Land eine Katastrophe beschert. Aber was soll er machen? Abtreten, Fehler eingestehen? Eine Fehlerdiskussion würde umgehend weitere Fragen aufwerfen: Zum Beispiel, auf welchen Wegen soviel geballte Inkompetenz an die Macht kommen konnte. Es würde nach Korruption, Bestechlichkeit, Nepotismus geforscht werden, nach der Rolle der Medien, dem Einfluß von NGOs und Fremdinteressen. Es ginge um persönliche Verantwortlichkeit und Haftungsfragen. Eine Kettenreaktion mit unabsehbarem Ende würde einsetzen.

„Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“, hatte SED-Chef Erich Honecker 1989 mit heiserer Stimme gerufen. Ein paar Wochen später, am 18. Oktober 1989, erklärte ein langjähriger Mitstreiter in der Sitzung des SED-Politbüros: „Erich, es geht nicht mehr. Du mußt gehen.“ Der alte Apparatschik stimmte der eigenen Absetzung am Ende zu, doch im Gehen warnte er die einstigen Getreuen vor dem Irrglauben, daß sein Abgang das Ende der Probleme bedeuten würde. Tatsächlich waren nur sechs Wochen später auch die Systemreformer am Ende,

Also Stärke zeigen! Erfurt gibt ein Beispiel. Es darf weiter gewählt werden, doch souverän ist, wer danach die Regeln setzt. Hauptsache, wir behaupten uns. Mögen die Demokratiekulissen darüber auch einstürzen. 

Foto: Thüringens AfD-Alterspräsident Jürgen Treutler (73) während der konstituierenden Sitzung des Landtags am 26. September 2024, CDU-Fraktionsgeschäftsführer Andreas Bühl im Thüringer Landtag: Hoher Erregungspegel