Im Jahr 2019 war der Begriff Boomer in aller Munde. Der Ausdruck „Okay Boomer“ wurde vor allem im Internet von jüngeren Generationen verwendet, um stereotype Ansichten der Generation der Babyboomer zu kritisieren oder sich darüber lustig zu machen. Damit sind die geburtenstarken Jahrgänge zwischen 1950 und 1964 gemeint – das kinderreichste Jahr war 1964 mit 1,36 Millionen Geburten.
Oftmals ist auch das Vorurteil zu hören, daß die hohen Rentenerwartungen dieser Generation eine Hypothek für die Jüngeren wären. In vielen Branchen zeigt sich nun, daß die deutsche Wirtschaft und das öffentliche Leben wohl nicht so einfach auf die „Boomer“ verzichten können.
„Der Abschied der Babyboomer wird alle Berufe und alle Branchen treffen. Industrie, Gastronomie, Handel, Pflege und eben auch das Handwerk – überall tun sich Fachkräftelücken auf. Auch weil zu wenig junge Menschen nachkommen. Am Ende ist es eine simple Rechnung, daß die Zahl der jungen Menschen nicht mehr ausreicht, um unsere Wirtschaft, wie sie ist, am Laufen zu halten“, betont Handwerkspräsident Präsident Jörg Dittrich.
Auch bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) herrscht seit einiger Zeit ein akuter Personalmangel. Um die verfahrene Situation in den Griff zu bekommen, sollen pensionierte U-Bahn-Fahrer zurückgeholt werden. Es seien „ehemalige Fahrerinnen und Fahrer im Ruhestand kontaktiert“ worden, sagte Petra Nelken, Sprecherin der Senatsverkehrsverwaltung, dem Berliner Tagesspiegel. Das Programm sei gerade erst gestartet worden, daher könne man noch keine Auskunft erteilen, wie gut das Angebot angenommen wird. Ganz neu ist das Phänomen freilich nicht. Schon vor zehn Jahren erklärten Unternehmen wie Daimler, daß sie auf Pensionäre zurückgreifen würden.
Die Bundesregierung will noch Rentner zum Arbeiten animieren
Und seitdem hat sich die Situation verschärft. Der demographische Wandel läßt die Zahl der Menschen im Alter zwischen 55 und 70 Jahren in den nächsten Jahren erheblich sinken. Statt 18,5 Millionen Personen im Jahr 2020 werden es im Jahr 2035 nur noch 17 Millionen sein. Dies ist das Resultat einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung. Dabei bleibe die Zahl der Menschen, die wegen Rente, Krankheit oder Erwerbslosigkeit nicht erwerbstätig seien, unverändert bei rund acht Millionen. Vom Rückgang sind ausschließlich die Erwerbstätigen in dieser Gruppe betroffen. Ihre Zahl geht um 1,5 Millionen beziehungsweise 14,3 Prozent auf knapp neun Millionen zurück. „Das ist eine paradoxe Situation“, erklärt Eric Thode, Arbeitsmarktexperte der Bertelsmann-Stiftung und fügt hinzu: „Angesichts des Fachkräftemangels sind wir mehr denn je auf die Arbeitskraft und Erfahrung Älterer angewiesen, doch der Anteil derjenigen, die sich früh aus dem Erwerbsleben zurückziehen, wird immer größer.“ 6,1 Millionen Menschen beziehen eine Alters- oder Erwerbsminderungsrente.
Zahlreiche Jüngere in dieser Altersgruppe leiden unter schlechter Gesundheit. So sind beispielsweise von den 60jährigen 41 Prozent zeitweilig oder dauerhaft erwerbsgemindert und deswegen nicht auf dem Arbeitsmarkt aktiv. Bei den Altersrentnern ab 65 Jahren geben dagegen drei Viertel an, gesundheitlich nicht eingeschränkt zu sein. „Für sie wären finanzielle Anreize und paßgenaue Arbeitsangebote geeignete Maßnahmen, die Erwerbsneigung zu erhöhen. Bei einer Angleichung der Erwerbsquote an das schwedische Vorbild könnten bis 2035 340.000 zusätzliche Vollzeitäquivalente entstehen“, heißt es in der Studie.
Die Zahlen sind in der Tat beeindruckend. Der Anteil der 65- bis 69jährigen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt. Und die Bundesregierung ist darum bemüht, weitere Anreize zu schaffen. Arbeitnehmer, die über die Regelaltersgrenze hinaus arbeiten, sollen dafür eine Prämie erhalten – die sogenannte Rentenaufschubprämie. Wer den Rentenbeginn aufschiebt und für mindestens zwölf Monate oberhalb eines Minijobs beschäftigt ist, soll mit einer Einmalzahlung in Höhe der ihm oder ihr entgangenen Rentenzahlungen belohnt werden, zum Zeitpunkt des späteren Rentenbeginns.
Die Zahl der Rentner in Deutschland, die weiter arbeiten gehen, nimmt unterdessen zu. Laut dem Bundesarbeitsministerium sind aktuell bundesweit 1.123.000 Erwerbstätige älter als 67 Jahre. Ende 2022 waren es noch 56.000 weniger. Die große Mehrheit geht aber einem 520-Euro-Minijob nach. Es gibt aber auch Berufszweige, bei denen es um Vollzeitstellen geht. In Nordrhein-Westfalen hat das Land ein Portal eingerichtet, auf dem sich Lehrkräfte melden können, die wieder arbeiten wollen. Ähnlich sieht es in Niedersachsen und Hamburg aus.
Dort wandten sich die Kultusministerien mit einem Schreiben an die Lehrkräfte, die kurz vor dem Eintritt in den Ruhestand stehen. Darin informierten sie über die Möglichkeiten einer Weiterbeschäftigung. Denn die Herausforderungen bei der Sicherstellung der Unterrichtsversorgung seien groß. Der Krieg in der Ukraine, die starke Migration aus anderen Ländern sowie die seit 2014 steigende Geburtenrate lassen die Zahl der Schüler an den niedersächsischen Schulen deutlich anwachsen. Schon zu Zeiten der Corona-Krise wurden in mehreren Bundesländern Lehrer aus dem Ruhestand zurückgeholt. Derzeit sind immerhin 13 Bundesländer aktiv auf der Suche nach pensionierten Pädagogen, die wieder arbeiten möchten. Laut der Kultusministerkonferenz fehlen bis 2025 etwa 25.000 Lehrkräfte, andere Berechnungen gehen noch von einer viel höheren Zahl aus. Derzeit sollen bundesweit bereits rund 5.000 Pensionäre wieder an den Schulen aktiv sein. Und es sind nicht die einzigen Beamten, die wieder „ran müssen“.
„Diese Generation ist häufig ein beliebter Fels in der Brandung“
Als erstes Bundesland setzt Nordrhein-Westfalen immer mehr pensionierte Polizeibeamte ein, die trotz ihres Ruhestands freiwillig weiterarbeiten. Aktuell kehrten 66 „Senior Experts“ in den Dienst zurück. Nach einem Modellprojekt brachte das Innenministerium im August einen Erlaß auf den Weg, der den Dienststellen die Wiederanstellung von Pensionären ermöglicht. 16 Kreispolizeibehörden haben die Chance bisher genutzt. „Rentner-Cops immer beliebter“, titelte die Bild. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) betonte laut dpa: „Ich bin froh, daß wir diesen Schritt gegangen sind und pensionierte Beamte wieder aktivieren konnten. Senior Experts verfügen über langjährige Erfahrung und Expertise in verschiedenen Bereichen der Polizeiarbeit, darunter auch Mordermittlungen. Sie können jüngere Kollegen vor allem in komplexen Fällen umfassend unterstützen.“
Mittlerweile gibt es sogar eigene Stellenportale für arbeitswillige Rentner. In großen Teilen der deutschen Wirtschaft werden Ingenieure gesucht. Darauf wies der Verband der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik hin. In den kommenden zehn Jahren fehlen nach einer Studie des Verbands rund 100.000 Elektroingenieure. BMW hat bereits vor fünf Jahren ein Programm aufgelegt, um Rentner aus den eigenen Reihen wieder in den Arbeitsalltag zu integrieren. Auch die US-Raumfahrtbehörde Nasa nimmt strategisch die „Ressource Rentner“ in Anspruch. „Die legendäre Raumsonde Voyager 1 funkt nur noch Datenmüll. Doch die Nasa will sie retten und reaktiviert dafür ihre Rentner“, schrieb Die Zeit im April.
Hintergrund der Geschichte: Wenn Probleme auftreten, greift die Nasa regelmäßig auf ein Netzwerk von pensionierten Experten zurück, die über entscheidendes Wissen und Erfahrungen aus früheren Projekten verfügen. Die Bertelsmann-Stiftung empfiehlt, daß Unternehmen frühzeitig Mitarbeitergespräche führen, um Anreize zu schaffen und Perspektiven aufzuzeigen. Außerdem müßten Hemmschwellen abgebaut und die Wertschätzung älterer Menschen erhöht werden. Weiterbildung sei wichtig und müsse von der Politik gewährleistet werden. In der Steuer- und Sozialpolitik müsse es Anpassungen geben, auch im Arbeitsrecht, listet die Studie auf. Längst nicht alle Menschen seien gesundheitlich noch in der Lage, im Alter zu arbeiten. Eine frühzeitige Gesundheitsförderung sei entscheidend. Denn die Probleme werden sich nicht kurzfristig lösen lassen.
Laut einer Umfrage des ifo-Instituts unter Personalleitern haben 54 Prozent der Betriebe, die aktiv auf der Suche sind, zu wenige Bewerber. Nach einer Prognose des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) werden bis zum Jahr 2035 weitere sieben Millionen Fachkräfte verlorengehen. Schaut man sich die Berichte aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens an, dann zeigt sich, daß der Mangel an Arbeitskräften auch vermeintlich attraktive Berufsfelder trifft.
In Thüringen wurde ein Programm aufgelegt, um pensionierte Mediziner für Akut-Praxen zu reaktivieren. Gerade in ländlichen Gebieten herrscht seit Jahren ein Ärztemangel. Alle Erhebungen zeigen ein grundsätzliches Problem auf. Dort, wo die Zahl der Arbeitskräfte ohnehin (zu) gering ist, sind die Überlastungserscheinungen besonders groß. Das Beispiel der Berliner Verkehrsbetriebe belegt dies. Aus einer vor kurzem von der AOK-Nordost veröffentlichten Auswertung geht hervor, daß in der Hauptstadt keine Berufsgruppe öfter krank ist als Fahrer im ÖPNV. In der Vergangenheit häuften sich Berichte über teilweise grenzwertige Arbeitsbedingungen. So hätten U-Bahn-Fahrer teilweise nicht einmal die Zeit gehabt, auf die Toilette zu gehen. Die Folge seien massive Streß-Symptomatiken. Nun sollen es eben die Boomer richten.
Die können es, schreiben die NRW-Branchenprofis von RUHR24JOBS: „Boomer haben viele Krisen durchstanden, die sie resilient gemacht haben. Sie haben den Strukturwandel im Ruhrgebiet miterlebt und häufig eine oder sogar mehrere Umschulungen gemacht, um sich den neuen Entwicklungen anzupassen. Heute kann sie kaum noch etwas erschüttern, und so sind ältere Arbeitnehmer dieser Generation häufig ein beliebter Fels in der Brandung, wenn es turbulent zugeht.“