© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/24 / 25. Oktober 2024

Vielleicht doch der Anfang vom Ende
Nahostkonflikt: Israel tötet den Hamas-Führer Jahja Sinwar. Doch ob damit ein echter Frieden näherrückt, ist fraglich
Marc Zoellner

Noch immer rätseln Experten über Jahja Sinwars Tascheninhalt: Am 16. Oktober hatte eine Patrouille der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) den Hamas-Führer in Rafah im südlichen Gazastreifen zufällig gestellt und in einem anschließenden Feuergefecht zusammen mit seinen beiden Leibwächtern liquidiert. Unter Sinwars Habseligkeiten fanden die Soldaten jedoch nicht nur Waffen und Munition, sondern ebenso unter anderem Mentos-Kaugummis, ein Geldbündel von Hunderten israelischen Schekel sowie den bereits abgelaufenen Ausweis eines palästinensischen UNHCR-Lehrers. Seitdem hält sich die Spekulation: Hatte Sinwar sein Tunnelversteck verlassen, um unter falschem Namen nach Ägypten zu fliehen?

Schon am 6. Oktober 2023 – einen Tag vor dem Überfall der Hamas auf Israel – hatte Sinwar sich gemeinsam mit seiner Frau und zwei Söhnen in den weiten Tunnelkomplex der Hamas zurückgezogen. 

Bereits im Februar gelang es der IDF, Sinwars Hauptbunker auszuheben. Videoaufnahmen zeigen Bäder, Küchen und Schlafzimmer, reichhaltige Nahrungspakete der UNHCR sowie einen randvoll mit Schekeln im Millionenwert gefüllten Tresor. Sinwar, der aufgrund mehrerer Morde 22 Jahre in israelischen Gefängnissen einsaß und aufgrund seiner Grausamkeit auch unter Palästinensern als „Schlächter von Khan Younis“ gefürchtet war, umgab sich in den Tunneln auch mit israelischen Geiseln als lebende Schutzschilde. Sechs dieser Geiseln ließ er noch Ende August hinrichten.

 Vielerorts in Israel wurde die Nachricht von Sinwars Tod spontan gefeiert. Er galt als Drahtzieher des Massakers vom 7. Oktober 2023, das über 1.200 Menschen das Leben kostete. Angehörige der noch immer verschleppten 97 letzten Geiseln werfen der Regierung in Jerusalem jedoch vor, aus militärstrategischen Gründen zu wenig für deren Befreiung zu tun. 

„Die israelische Regierung wird daran gemessen, wie viele Geiseln sie nach Hause zurückbringt, und nicht daran, wie viele Terroristen sie eliminiert“, beklagt eine Familie in einem Schreiben an Premier Benjamin Netanjahu. Dieser versicherte derweil der israelischen Öffentlichkeit auf X, Sinwars Tod sei „zwar nicht das Ende des Krieges im Gazastreifen, aber es ist der Anfang vom Ende“.

Teheran reagiert überraschend zurückhaltend

Dennoch könnte Sinwars Liquidation Raum für neue Verhandlungsrunden öffnen. „Ein neuer Führer, insbesondere einer, der von außerhalb des Gazastreifens kommt, könnte eher geneigt sein, einen Deal abzuschließen, als es Sinwar war“, urteilen die beiden Nahostkenner Ahmed Alkhatib und Jonathan Panikoff von der US-Denkfabrik Atlantic Council. „Israel, die arabischen Nationen und die USA sollten nun den verbliebenen Hamas-Mitgliedern, die ihre Waffen niederlegen und den Kampf einstellen, eine Massenamnestie anbieten. Sie sollten auch denjenigen finanzielle Belohnungen anbieten, die die israelischen Geiseln ausliefern.“ Fraglich bleibt allerdings, ob sich zu zeitnahen Verhandlungen überhaupt jemand aus der weithin zerschlagenen Hamas-Kommandostruktur findet, der noch gewillt ist, Sinwars Platz einzunehmen.

Ungewohnt verhalten blieb die Reaktion des Iran: Hatte Teheran auf die Liquidation des Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah vom 27. September noch mit einem – wenig erfolgreichen – Raketenbeschuß auf Israel geantwortet, erfolgte zu Sinwars Tod lediglich eine knapp gehaltene Kondolenz seitens des Obersten Führers Ali Chamenei. Allerdings bestätigten die Islamischen Revolutionsgarden des Iran, „jederzeit in voller Bereitschaft“ zu sein, da ein erwarteter Gegenschlag Israels auf iranische Einrichtungen weiterhin ausstünde. 

Am Montag verkündete US-Verteidigungsminister Lloyd Austin den Abschluß der Lieferung von THAAD-Raketenabwehrsystemen als Teil eines Rüstungspakets der USA im Wert von 8,7 Milliarden US-Dollar an den jüdischen Staat.