© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/24 / 25. Oktober 2024

„Müssen das so durchwinken“
Erfahrungsberichte: Behördenmitarbeiter erleben häufig, wie ihre Klientel Sozialleistungen erschleicht. Weisen sie auf Mißstände hin, interessiert das Vorgesetzte kaum. Das frustriert
Daniel Holfelder

Thomas L. (Name geändert) staunte nicht schlecht. „Bitte beeilen Sie sich, mein FlixBus fährt gleich“, stand dort auf dem Smartphone-Bildschirm, übersetzt mit Hilfe des Programms Google-Translate. Vor ihm saß eine ukrainische Frau, die seit sechs Monaten Sozialleistungen in Deutschland bezog. Während dieser Zeit mußte sie beim Sozialamt, in dem L. arbeitet, nicht persönlich vorsprechen. Das Geld erhielt sie trotzdem. „Obwohl sie offensichtlich nicht in Deutschland lebt, sondern in der Ukraine. Diese Betrugsfälle erleben wir inzwischen ständig“, schildert L., der anonym bleiben will, der JUNGEN FREIHEIT. Sein Arbeitsort, auch das Bundesland, soll nicht veröffentlicht werden. „Wenn meine Vorgesetzten erfahren, daß ich mit der Presse über diese Mißstände spreche, bin ich meinen Job los.“

Um welche Mißstände geht es? L. zufolge läuft die Betrugsmasche immer gleich ab: „Es kommen Ukrainer zu uns und legen Pässe sowie Vollmachten von Landsleuten vor, die angeblich nicht persönlich erscheinen können. Außerdem bringen sie einen Nachweis über eine Altersregelrente der Landsleute aus der Ukraine mit. Damit stellen sie dann in deren Namen einen Antrag auf Altersgrundsicherung. Der natürlich bewilligt wird.“ Für seine Kollegen und ihn sei vollkommen klar, daß diese Leute doppelt Leistungen beziehen: Sie leben in der Ukraine, bekommen dort die ukrainische Rente, kassieren aber parallel die Grundsicherung im Alter in Deutschland. „Wir müssen das so durchwinken. Anweisung von oben“, macht L. deutlich. Nach sechs Monaten müßten die Ukrainer, die zunächst angeblich nicht persönlich erscheinen konnten, zum ersten Mal selbst ins Amt kommen. „Und dann spielen sich ganz oft diese FlixBus-Szenen mit dem Handy und dem Google-Übersetzer ab.“ Die Ukrainer würden trotzdem weiterhin die Altersgrundsicherung erhalten. „Wir müssen den Leistungsbezug verlängern. Anweisung von oben“, wiederholt L. Er geht davon aus, daß es im Zuständigkeitsbereich seines Sozialamtes bislang rund 500 dieser Betrugsfälle gibt. 

Daß das deutsche Sozialsystem generell anfällig für Mißbrauch ist, legen auch die Erfahrungen eines Jobcenter-Mitarbeiters nahe, der gegenüber der jungen freiheit seinen Arbeitsalltag bei der Vergabe von Bürgergeld beschreibt. Er will ebenfalls anonym bleiben. „Leistungsmißbrauch begegnet mir und meinen Kollegen quasi ständig“, führt er aus. Ein großes Problem sei etwa die Schwarzarbeit. „Viele Leistungsbezieher haben zusätzlich zum Bürgergeld einen Minijob. Der Zuverdienst wird nur teilweise angerechnet. Das heißt, die Leistungsbezieher erhalten weiter einen Teil des Bürgergelds plus den Verdienst aus dem Minijob und gehen am Ende mit mehr Geld nach Hause als ohne Minijob.“ 

So zumindest die Theorie. Tatsächlich sei der Minijob in Wirklichkeit oft ein Vollzeitjob oder eine Anstellung auf Auftragsbasis, vor allem im Baugewerbe. „Die Bürgergeld-Empfänger bekommen dann offiziell von ihrem Arbeitgeber den Minijob-Lohn. Der Rest wird schwarz gezahlt. Oder sie machen sich gar nicht die Mühe, einen Minijob zu erfinden und arbeiten einfach so schwarz. Wir kommen den Leuten nur ganz selten auf die Schliche, weil wir kaum Möglichkeiten zur Überprüfung haben“, legt er dar.

Betrogen werde ferner dadurch, daß die Leistungsbezieher in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Jobcenters umziehen. Das komme häufig vor, wenn ihnen beim bisherigen Sanktionen drohen. „Aufgrund des Sozialgeheimnisses tauschen die Jobcenter die Daten nicht aus. Es geht also wieder bei null los. Und natürlich gibt es auch Leistungsbezieher, die von mehreren Jobcentern gleichzeitig Geld bekommen“, moniert er. „Wie bei der Schwarzarbeit schaffen wir es nur selten, diese Fälle aufzudecken. Aber die Dunkelziffer dürfte sehr hoch sein, das ist eigentlich jedem klar, der in diesem Bereich arbeitet.“ Tatsächlich existieren keine belastbaren Zahlen, mit denen sich der Schaden, der in Deutschland jährlich durch Sozialmißbrauch entsteht, beziffern ließe. Auch nicht für den Teilbereich Bürgergeld, wie die Bundesagentur für Arbeit auf Anfrage erklärt. Weder für das laufende noch für die Vorjahre kann die Behörde auf Nachfrage der jungen freiheit eine konkrete Summe nennen. 

„Arbeit aufzunehmen lohnt sich in vielen Fällen nicht“

Die Einführung des Bürgergelds vor knapp zwei Jahren halten mehrere Jobcenter-Mitarbeiter, mit denen die JF unabhängig voneinander sprechen konnte, indes nicht nur wegen des Betrugspotentials für einen gravierenden Fehler. „Arbeit aufzunehmen lohnt sich mit dem Bürgergeld in vielen Fällen nicht“, schildert einer von ihnen. Die Leistungen seien schlicht zu hoch, und es gebe zu wenige Sanktionsmöglichkeiten. Maximal um 30 Prozent könne man die Zahlungen kürzen, mehr nicht. „Vielen macht das nichts aus, und sie weigern sich, die angebotenen Stellen anzunehmen oder zu ihren Terminen zu erscheinen.“

Besonders mit Blick auf den Niedriglohnsektor und kinderreiche Familien sei das Bürgergeld lukrativer als eine Arbeitsstelle. „Das kommt vor allem bei Einwanderern häufig vor, die eben schlecht oder gar nicht ausgebildet sind und meist viele Kinder haben“, gibt einer der Mitarbeiter zu Protokoll, während ein anderer berichtet: „Bei mir kommt es nicht selten vor, daß zum Beispiel syrische Familien mit fünf oder mehr Kindern ein ganzes Haus finanziert bekommen, weil das Amt ja die Miete übernehmen muß und so große Wohnungen rar sind.“

Grundsätzlich würden Migranten mehr Probleme verursachen als Deutsche, so die generelle Erfahrung der verschiedenen Sozialamts- oder Jobcenter-Mitarbeiter, mit denen diese Zeitung sprechen konnte. „Selbstverständlich haben wir auch unsere deutschen Problemfälle. Aber jeder bei uns weiß, daß es mit den Sinti und Roma, mit arabischen oder afrikanischen Leistungsbeziehern viel mehr Schwierigkeiten gibt“, fährt er fort. Mit Ukrainern hingegen, die 2023 laut der Bundesregierung 12,8 Prozent der Bürgergeld-Empfänger ausmachten, habe er persönlich sehr gute Erfahrungen gemacht. Insgesamt betrug der Ausländeranteil beim Bürgergeld im vergangenen Jahr 47,3 Prozent. 

Worüber alle Befragten übereinstimmend klagen, ist das Desinteresse ihrer Vorgesetzten. Sie und ihre Kollegen würden die Mißstände immer wieder ansprechen. Passieren würde jedoch nichts. „Man hat das Gefühl, das ist alles so gewollt“, kritisieren sie. Ein Mitarbeiter stellt enttäuscht fest: „Sinnstiftend ist das nicht, was ich hier mache.“


Bürgergeld

Ab dem 1. Januar 2023 hat das Bürgergeld das bisherige Arbeitslosengeld II („Hartz IV“) abgelöst. Der monatliche Regelsatz hierfür sowie bei der Grundsicherung im Alter beträgt aktuell für Alleinstehende 563 Euro. Bei Familien mit Kindern liegt der Regelsatz bei 1.012 Euro für die beiden Erwachsenen. Pro Kind kommen, je nach Alter, 357 bis 471 Euro hinzu. Darüber hinaus übernimmt der Staat die Mietkosten, die Mietnebenkosten sowie die Heizkosten, soweit diese in einem „angemessenen Rahmen“ bleiben, der sich am lokalen Mietspiegel orientiert. Das gleiche gilt für die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung. Berücksichtigt werden muß außerdem die Kostenübernahme für Mehrbedarfe, etwa bei Menschen mit Behinderung, und einmalige Zahlungen, beispielsweise für Bekleidung oder die Erstausstattung der Wohnung. Der Bundesregierung zufolge wurden im vergangenen Jahr rund 42 Milliarden Euro für etwa 5,5 Millionen Bürgergeldempfänger ausgegeben. Bei der Grundsicherung im Alter, die auch für voll Erwerbsgeminderte gilt, waren es dem Statistischen Bundesamt zufolge 10,1 Milliarden Euro für insgesamt mehr als 1,2 Millionen Leistungsbezieher. (dh)