Das deutsche Sozialstaatsprinzip ist eine Art positiver Gründungsmythos der Bundesrepublik. Es wurde als „Staatsziel“ im Grundgesetz verankert und gilt als Garant für sozialen Frieden und Demokratietreue der Bürger – als eine der „Lehren aus Weimar“, wonach die erste deutsche Republik auch am Abstieg breiter Bevölkerungsschichten gescheitert sei. Und man geht wohl nicht zu weit, wenn man hinter dem „Verfassungspatriotismus“ (Dolf Sternberger) der Deutschen zu einem guten Teil schnöden Sozialstaatspatriotismus vermutet. Ein Patriotismus, der so lange ohne Bezug auf das Vaterland („patria“) auskam, wie die Vorstellung einer mehr oder weniger homogenen Verfassungsgemeinschaft von sich gegenseitig Sozial-, Renten- und Krankenversichernden aufging.
Aber diese Zeiten sind vorbei. Und das nicht erst seit gestern, und nicht nur wegen der gerade herrschenden Rezession. Seit der Regierung von Bundeskanzler Ludwig Erhard im Jahr 1960 ist das jährliche Sozialbudget Deutschlands von umgerechnet rund dreißig Milliarden Euro auf über 1,18 Billionen Euro (2022) gestiegen. Knapp zwei Drittel davon entfielen am Ende auf die Bereiche Krankheit und Alter. Im Zuge dieses gigantischen Anstiegs wuchsen die Ausgaben für Sozialleistungen schon seit Anfang der 1970er Jahre stärker als das Bruttoinlandsprodukt.
Warum diese Schere, die sich bereits seit Jahrzehnten zwischen der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft und den Ausgaben für die sozialen Sicherungssysteme öffnet, nicht längst als Skandal wahrgenommen wird, ist eine interessante Frage. Sie führt zum einen zu der Feststellung, daß alle Regierungen der letzten fünf Jahrzehnte die sukzessiv aufgelaufenen Defizite der umlagefinanzierten sozialen Sicherungssysteme im Bundeshaushalt versteckt, also aus Steuermitteln beglichen haben. Mit dem Ergebnis, daß heute rund die Hälfte des Bundeshaushaltes für das Sozialbudget fällig wird. Gleichzeitig belasten Steuern und Abgaben die Einkommen in Deutschland so stark wie in kaum einem anderen Industrieland (laut OECD weltweit Platz 2 hinter Belgien).
Zum zweiten gehören zu einer über so lange Zeit geduldeten Mißwirtschaft immer zwei. Einer, der die Bücher frisiert und einer, der es nicht so genau wissen will. Und da sind wir wieder beim mythisch verklärten deutschen Sozialstaatsprinzip. Schließlich reagiert der deutsche Wähler zuverlässig reflexartig auf jeden Appell an den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“, gegen „soziale Spaltung“ oder auf Drohungen mit dem „sozialen Flächenbrand“, – oder wie die Gauklerparolen über die Jahre alle hießen, mit denen immer neue unfinanzierbare Umverteilungsideen und soziale Wohltaten unter die Wähler gebracht wurden. Gegen den Mythos der breiten sozialen Alimentation als Totalitarismusbremse hatte die Kostenwahrheit im Nachkriegsdeutschland nie eine Chance. Zumal die Deutschen im Durchschnitt ökonomisch nicht besonders gebildet sind.
Wer sich mit den Details der jetzt brutal aufscheinenden Sozialstaatsmisere beschäftigt, stößt auf ein Dickicht von über die Jahre gewucherten Leistungszuwächsen und verdeckten Querfinanzierungen. Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Da ist die Rentenversicherung, seit langem schon strukturell unterfinanziert – auch, aber nicht nur wegen der zunehmenden Überalterung – und zudem mit zahlreichen versicherungsfremden Leistungen überfrachtet. Da ist das Gesundheitssystem, ein Eldorado für Beutezüge zahlreicher Lobbygruppen, von denen die Patienten nur die kleinste sind. Mit einer nahezu unbegrenzten Möglichkeit der Facharztwahl und einer im internationalen Vergleich exorbitant hohen Zahl von Arztbesuchen scheint die deutsche Arztpraxis zum Hort einer ganz besonders teuren Form der Einsamkeitsbetreuung geworden zu sein.
Und auch mit den Krankenkassenbeiträgen werden versicherungsfremde Leistungen finanziert. Auf über neun Milliarden Euro beziffern die gesetzlichen Kassen allein den Fehlbetrag, der ihnen durch die zu geringe Zuweisung des Bundes für die Versorgung der Bürgergeldempfänger entsteht. Auch die dramatische Unterdeckung der Pflegeversicherung ist seit Jahr und Tag offenkundig. Ein besonders interessanter Fall der Querfinanzierung läuft über die ohnehin ins Maßlose gestiegene Grundsicherung für Arbeitssuchende nach Sozialgesetzbuch (SGB II), früher Hartz IV und neuerdings Bürgergeld genannt.
Mit etwa der Hälfte der insgesamt rund 24 Milliarden werden unter diesem Haushaltstitel die immensen Kosten der unkontrollierten Zuwanderung in den Sozialstaat verschleiert. Es handelt sich dabei um Zahlungen an Menschen, die in Deutschland noch nie in die Sozialkassen eingezahlt haben. Ein Etikettenschwindel, wie er auch mit dem Rest der insgesamt 50 Milliarden Euro betrieben wird, die jährlich Bund, Länder und Kommunen allein für die dysfunktionale Migrationspolitik aufbringen müssen. Das entspricht in etwa dem deutschen Verteidigungshaushalt.
Dafür und für die jahrzehntelang vernachlässigte Infrastruktur sollen nun „Sondervermögen“, wieder so ein Gauklerwort, gebildet werden. Verwaltet werden soll diese Schuldenwirtschaft von einem immer noch weiter anwachsenden Beamtenheer, anstatt endlich die Verwaltung zu digitalisieren, um endlich die nur allzu nahe liegenden Sparpotentiale zu heben. Aber dafür fehlt das Geld – und wenn man ehrlich ist – offensichtlich auch schon lange der aktive Wille derer, die im Besitz des entsprechenden „Amts- und Dienstwissens“ (Max Weber) sind.
Es ist also eine reichlich verfahrene Situation, die erfordert, daß sowohl die Bevölkerung als auch die politische Führung zu einem Gleichgewicht von Einnahmen und Ausgaben zurückfinden und das Verhältnis von kollektiver und individueller Verantwortung neu austarieren. Der Spuk der Ampel mag sich binnen Jahresfrist verflüchtigen, aber bislang ist keine politische Kraft in Sicht, die zu solcher Abhilfe fähig erscheint. Und man will sich nicht damit abfinden, daß es erst noch schlimmer kommen muß, bevor es besser wird. Denn zu viel Sozialstaat kann ebenso fatal enden wie zu wenig.