© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/24 / 18. Oktober 2024

Eine Schattenwelt, in der das Böse lauert
Der Schriftsteller Volker Mohr nimmt bei Dantes „Göttlicher Komödie“ Maß, um den keineswegs mehr nur soften Totalitarismus unserer Zeit satirisch zu demaskieren
Günter Scholdt

Volker Mohr gehört zu jenen Geheimtips, ohne die eine nonkonformistische Literaturgeschichte der Berliner Republik nicht geschrieben werden sollte. Als Anfang der 2020er die Corona-Panhysterie traurige Triumphe feierte, spitzte er seine früher eher abstrakten erzählerischen Weltmodelle unverkennbar auf aktuelle, nicht zuletzt rechtsstaatliche Verwerfungen zu. Geschichtenbände wie „Unter Menschen“ oder „Der verlorene Himmel“ zählen zu den hierzulande raren satirischen Demaskierungen eines keineswegs mehr nur „soften“ Totalitarismus. 

Im Fortgang seiner Produktion sah er sich damit konfrontiert, daß unsere rasante postdemokratische Dekadenz Schriftsteller vor erhebliche Darstellungsprobleme stellt: Wie läßt sich eine realsatirische Politpraxis so verfremden, daß originelle literarische Formung überhaupt noch möglich ist, fern der täglichen Schlagzeilen eines immer absurderen Lemming-Zugs Richtung Wokistan. Mit seinem neuesten Werk „Die höllische Komödie“ fand Mohr einen Weg aus diesem Dilemma durch die moderne Umgestaltung von Dantes Epos „Die göttliche Komödie“.

In diesem im Spätmittelalter erschienenen Klassiker der Weltliteratur durchwandert der Dichter die Hölle, erschreckt vom furchtbaren Schicksal zahlreicher Sünder, darunter etlichen Potentaten der Renaissance-Zeit. Ihn leitet der antike Poet Vergil, Schöpfer der „Aeneis“. In Mohrs Allegorie steht dem Ich-Erzähler Ernst Jünger zur Seite. Er führt und berät ihn beim Rundgang durch die Unterwelt, die sich zugleich als seelische Introspektion erweist. „Irgendwann“, heißt es, möge man erkennen, daß „die Hölle real“ und „mitten unter uns ist“. „Daß wir sie durch unsere Verdrängungen selber erschaffen.“ 

Konsequenterweise hat der fiktive Wanderer unserer Unterwelt eine gewisse Wegstrecke ohne Begleitung zu bewältigen. „Manche Prüfungen müssen wir alleine bestehen (…) manche Erfahrung selber machen.“ Darüber hinaus gilt als Motto des Buchs Dantes Empfehlung: „Geh du deinen Weg und laß die Leute reden.“

Auch dieses Werk kombiniert romantische Verspieltheit mit warnutopischer Skepsis. Dabei werden verhängnisvoll-peinliche Vertreter der Gegenwart oder der Zeitgeschichte in ihren Höllenqualen gemustert. Darunter als erkennbare Sozialtypen in Mohrs Einstufung die „Identitätslosen“, „Übermaler“, „Kollektivisten“, „lauen Seelen“, „Mitläufer“, „Verräter“, „jene, die nur heiße Luft ausstießen, die Isolierten, die Cancler, die Wetteraktivisten und viele andere“. Alle münden sie schließlich als Kollektivporträt in der Figur des Luzifer. Zur Schrecken erregenden Begleitung bei diesem Alptraumgang gehören Dämonen aller Art in ihren wilden Jagden und Veitstänzen. 

Beim Ausmalen unserer zeitgenössischen Sozial- und Polithölle nutzt Mohr seinen Einfallsreichtum im Erfinden phantastischer Szenerien, dargeboten mit gewohnter sprachkritischer Finesse. So entfaltet sich etwa die Wortbedeutung von „Lügenpresse“, indem er den durch sie ausgeübten sozialen Druck im Doppelsinn von „Pressen“ illustriert. Daß im Kontext zusätzlich bedrohliche (Zeitungs-)„Enten“ flattern, kennzeichnet Mohrs wortspielerische Neigung. Auch die Müllhalde wird als symbolisch gefaßter gesellschaftlicher Zustand eindrucksvoll ins Bild gesetzt.

Naturgemäß tendiert ein epischer Stoff, der um Buße und Strafe von Sündern kreist, zur Didaxe. Auch in Mohrs Adaption dominiert Lehrhaftes, insofern der Autor unserer verantwortungsscheu-hedonistisch wie totalitär verseuchten Epoche ihren Spiegel vorhält. Der Gefahr, Botschaften sehr nachdrücklich zu verkünden, war sich Mohr offenbar bewußt, wie ein Dialog über die „lauen Seelen“ verrät. Sprachrohr Ernst Jünger definiert sie als jene weder Guten noch Bösen, „denen alles gleichgültig war. Die einfach mitliefen. Denen es egal war, wohin sie liefen. Hauptsache, sie waren in Bewegung. Hauptsache unterwegs.“ Und als der Ich-Erzähler zurückfragt („Klingt das nicht etwas – moralisch?“), folgt die Replik: „Wenn du meinst. – Aber wenn wir die Dinge nicht benennen, bleiben wir selber lau.“


Volker Mohr: Die höllische Komödie. Loco Verlag, Diessenhofen 2024, gebunden, 138 Seiten, 22 Euro