Neuerscheinungen pflegt man mit der Behauptung anzupreisen, sie brächten viel Neues. Wenn ein Staatsrechtslehrer wie Hans Herbert von Arnim über die Mißstände des Parteienstaates schreibt, tut man sich schwer mit diesem Argument, denn die meisten Skandale, von denen er berichtet, sind längst bekannt. Bekannt, aber nicht beseitigt, vielleicht sogar durch irgendeine Peinlichkeit ersetzt, die den einen durch einen anderen Skandal noch überbietet. Wer den Auswüchsen des deutschen Parteienstaates nachgeht, läßt sich auf eine unendliche Geschichte ein, auf einen Kampf mit einem Drachen, dem für jeden abgeschlagenen zwei neue Köpfe nachwachsen. Herakles wurde mit der vielköpfigen Hydra erst dann fertig, als er die Wunden ausbrannte und so das Nachwachsen immer neuer Köpfe verhinderte. Von Arnim hat ähnliches versucht, oft genug auch geschafft, und das verspricht eine aufschlußreiche Lektüre.
Laut Grundgesetz wirken die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mit – klingt harmlos, aber was haben die Parteien in mehr als siebzig Jahren zäher Arbeit daraus gemacht! Der Titel des Buches „Macht braucht Kontrolle“ umreißt mit ganzen drei Wörtern das Hauptmotiv der gesamten europäischen Verfassungsgeschichte. Mit dieser Geschichte wollen die deutschen Staatsparteien Schluß machen, und dabei sind sie auch schon ziemlich weit gekommen. Sie unterlaufen ja nicht nur die klassische Form der Machtkontrolle, die wohlbekannte Teilung in gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende Gewalten. Sie sind darüber längst hinaus. Sie haben sich alle möglichen, gesellschaftlich relevant genannten Kräfte unterworfen, haben Vorsitzende und Präsidenten, Bischöfe und Funktionäre, Experten und Lobbyisten eingebunden, abhängig gemacht, an die Leine genommen oder, wie man früher gesagt hatte: gleichgeschaltet.
Nicht nur die Zeit, auch Macht ist Geld, sagt sich der durchschnittliche Parteisoldat; und greift zu. Hans Herbert von Arnim nennt die gewaltigen Summen, die in Gestalt von Steuerprivilegien, Funktionszulagen, Mitarbeiterpauschalen und aberwitzigen Versorgungsansprüchen immer dann fällig werden, wenn Parlamentarier in eigener Sache tätig sind. Den Vogel abgeschossen hat das Saarland, wo ein Minister an einem einzigen Arbeitstag Anspruch auf eine lebenslange Vollversorgung erwerben konnte. Seitdem die Grünen mitregieren, hat diese Art der legalen Korruption allerlei neue Blüten hervorgetrieben. In den von ihnen beherrschten Häusern scheint die Kumpanei zwischen Politik und Geschäftsbetrieb, getarnt als gut bezahlte Tätigkeit in einer NGO, besonders üppig zu gedeihen. Schade, daß man im vorliegenden Buch zu wenig dazu findet. Welche Entdeckungen hätte ein Mann wie Hans Herbert von Arnim in Robert Habecks Wirtschaftsministerium machen können!
Den Geist aus der Flasche gelassen hatte der seinerzeit einflußreiche Verfassungsrichter Gerhard Leibholz; sein Name geistert auch durch dieses Buch. Volk und Parteien hatte dieser eigenwillige Jurist kurzerhand in eins gesetzt. Wahlen werden damit überflüssig, weil das Volk seinen Willen durch sein Mundstück, die Parteien, ja ohnehin schon kundtut. Die „Fortschrittskoalition“ hatte dieses Ziel im Auge, als sie die Verkleinerung des Bundestages zum Vorwand für ein Gesetz nahm, das, wäre es durchgegangen, die Übermacht des Parteienkartells noch einmal zementiert hätte.
Was nicht ist, kann aber noch werden. Der Parteienstaat dringe durch alle Ritzen der Gesellschaft, hatte Richard von Weizsäcker moniert; das war vor Jahren. Inzwischen haben die Parteien die Wände eingerissen und die Gesellschaft erobert. Auf den Beschluß der Bundestagsabgeordneten, ihre Diäten an die Bezüge von Bundesrichtern zu koppeln, reagierte von Weizsäcker mit einer Frage. Was ein Bundesrichter können müsse, das glaube er zu wissen, sagte der Präsident, „aber was muß eigentlich ein Abgeordneter können?“ Die Frage stellt sich nach jeder Bundestagsdebatte von neuem. Und niemand kennt die Antwort.
Hans Herbert von Arnim: Macht braucht Kontrolle. Warum wir unsere Demokratie neu denken müssen. Erfahrungen mit 75 Jahren Parteienstaat. Ansichten eines streitbaren Demokraten. Heyne Verlag, München 2024, gebunden, 368 Seiten, 25 Euro
Bild: Guido Reni, „Herkules tötet die Hydra von Lerna“, Öl auf Leinwand 1621: Der Parteienstaat dringt durch alle Ritzen der Gesellschaft