© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/24 / 18. Oktober 2024

Perspektivwechsel ist erforderlich
Der Mainzer Historiker Andreas Rödder hat eine solide Bestandsaufnahme über den Weg von Fukuyamas „Ende der Geschichte“ bis in die multi- polare Gegenwart vorgelegt
Boris Preckwitz

Wenn politische Machtverhältnisse sich merklich ändern, sind die Ursachen dafür so fortgeschritten, daß die eintretende Wirklichkeit meist unumkehrbar ist. Derzeit stellen zwei Ereignisse die Politik des Westens in Frage: Rußlands Angriff auf die Ukraine und der künftig zu befürchtende „kalte Handelskrieg“ mit China. Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte an der Universität Mainz, beschreibt in seinem Buch „Der verlorene Frieden. Vom Fall der Mauer zum neuen Ost-West-Konflikt“, wie seit 1989 der Triumph des Westens über die Regime des Kommunismus verspielt wurde. Eine unipolare Weltordnung „Made in USA“ trat nicht ein. Rödder zufolge habe der Westen sich selbst getäuscht in „der Überzeugung von der universalen Gültigkeit der eigenen Ordnung, der Vorstellung des globalen Demokratieexports und einer Arroganz der Macht“. Stattdessen entstanden Einflußzonen, in denen weitere Kontinentalstaaten „als Vormächte über die Souveränität und Integrität der Staaten in ihrer Einflußsphäre bestimmen.“

Die Entfremdung Rußlands zum Westen steigerte sich in dem Maße, wie sich der Kreml durch politische Interventionen in seinen eigenen Sicherheitsinteressen beeinträchtigt sah: durch die Nato-Erweiterungen, auch durch die „orangenen Revolutionen“ und die Kriegsinterventionen gegen russische Partnerländer von Serbien bis Syrien. Erstaunt erlebte die Welt die Unfähigkeit des USA-geführten Westens, trotz jahrzehntelanger Kriegseinsätze in Afghanistan und Irak und trotz des sogenannten Arabischen Frühlings keine glaubhafte freedom agenda für den Nahen Osten zustande zu bringen. Zudem erwuchs ein neuer Machtfaktor mit globaler Reichweite: China überholte in einem rasanten wirtschaftlichen Aufschwung nicht nur Europa, sondern in etlichen Branchen auch die USA. Pekings ökonomischer Einfluß reicht weit über Ostasien und die BRICS-Staaten hinaus nach Afrika, Lateinamerika und sogar Europa. Protektionistische Handelsbeschränkungen seitens der USA und einer wenig wettbewerbsfähigen EU zeichnen sich ab. 

Das von Francis Fukuyama 1989 prognostizierte „Ende der Geschichte“ in globaler, liberaldemokratischer Freiheitlichkeit wurde nicht Wirklichkeit, anscheinend aber der Beginn eines neuen geschichtlichen Kreislaufs, der eben jene westlichen Werte mit Verweis auf ihre Schwächen zur Disposition stellt. Die Prioritäten, die Rödder zur Selbstbehauptung des Westens setzt, stimmen wenig hoffnungsvoll. Woher sollen sie kommen, die multilaterale Bündnisstärke mit transatlantischer Solidarität? Woher die liberale Lösungskompetenz für innenpolitische Probleme? Woher europäische Handlungsfähigkeit bei Sicherheit und Migration oder gar deutsche Führungsverantwortung in Europa? Rödder mag als Leiter der konservativen Denkfabrik R21 seine Empfehlungen dem CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz gewidmet haben. Doch je länger die Liste, desto weniger scheint sie durch die wirtschaftliche Absteiger-Nation Deutschland überhaupt leistbar. Auch nicht durch eine Partei, deren merkelianisches Personal unlängst dafür sorgte, daß Rödder den Vorsitz der CDU-Grundwertekommission niederlegen mußte, weil er heiße Begeisterung für die Anti-AfD-Brandmauer vermissen ließ.

Dessen ungeachtet ist Rödders Buch eine virtuose Sachstandsbeschreibung auf wissenschaftlich gesichertem Niveau. Dennoch könnte das Fach der „neuesten Geschichte“ analytisch gewinnen, wenn es sich an der älteren orientierte. Die Kluft zwischen der US-Politik sowie dem russo-europäischen und sino-asiatischen Staatsdenken erklärt ein Konzept des französischen Historikers Fernand Braudel (1902–1985). Charakteristisch für die USA ist, was Braudel als Ereignispolitik (événement) beschreibt. Ihr fehlt ganz entscheidend das Verständnis von Staatengeschichte in epochenlanger Dauer (longue durée). Demnach wäre zu berücksichtigen, daß die USA 250 Jahre alt sind, China als Reich der Mitte allerdings 5.000 Jahre. Wie die Geschichte zeigt, sind politische Systeme stets daran gescheitert, wenn sie als raumfremde Mächte auswärtige Territorien zu beherrschen suchten. Für die Demokratie ist natürlich immer und umfassend zu hoffen.


Andreas Rödder: Der verlorene Frieden. Vom Fall der Mauer zum neuen Ost-West-Konflikt. Verlag C.H. Beck, München 2024, gebunden, 250 Seiten, 26 Euro