Ein kundiges Buch haben Kolja Zydatiss und Mark Feldon vorgelegt ohne Zweifel – und überaus empfehlenswert. Auf knapp 350 Seiten legen sie in einer detailreichen Übersicht systematisch dar, daß der Traum der posthistorischen, liberalen und freiheitlichen Demokratie ausgeträumt scheint. „Vielfalt“, „Ökologismus“, „Transhumanismus“ – die drei Sargnägel des erfolgreichsten (und folgenreichsten) politischen Traums des 18., 19. und 20. Jahrhunderts sind in der Tat übermächtig geworden. Und wenn sich die Aufzählungen manchmal eher additiv als wirklich analytisch lesen, kann man den Autoren in der Sache kaum widersprechen; auch die beeindruckende, manchmal etwas apologetisch wirkende Fülle an Zitaten und Gewährsmännern zeigt deutlich, wie weitverbreitet die Stimmung des „Interregnums“ in der Tat mittlerweile geworden ist.
Freilich: Der Begriff „Interregnum“ ist staatstheoretisch etwas ungeschickt gewählt, denn er bezeichnet strenggenommen einen Zustand zwischen zwei sehr verschiedenen Amtsperioden oder Regierungsformen. Tatsächlich sollte die Gegenwart vielmehr als „fin de règne“ bezeichnet werden, also als jene Spätzeit, in der das Ableben eines greisen Monarchen absehbar ist und die meisten seiner oft erratischen, gefährlichen oder anachronistischen Entscheidungen nur noch widerwillig oder aus Furcht durchgeführt werden, da sich die gesamte Aufmerksamkeit schon dem Nachfolger zuwendet. Diese Unterscheidung ist alles andere als ein Detail, sondern von zentraler Bedeutung, denn der Begriff des „Interregnums“ tendiert dazu, die gegenwärtigen Zustände mehr oder weniger scharf von der Vergangenheit zu trennen, während das „fin de règne“ in ihnen vielmehr ihre ebenso notwendige wie unaufhaltsame und finale Konsequenz sieht.
Dies ist kein Zufall, denn wenn die Autoren sich auch regelmäßig gegen den Vorwurf einer Idealisierung des Liberalismus der „guten alten“ Bundesrepublik wehren, spürt man doch überall, wie sehr das Selbstbild der liberalen westlichen Demokratien der 1970er und 1980er nicht nur als Vergleichsmaßstab der Gegenwart, sondern gewissermaßen als allgemeingültige und finale politische Utopie der gesamten Menschheit herhalten muß. Zwar wird immer wieder kundig gezeigt, inwieweit die Selbstaushebelung jener liberalen Demokratien ein langfristiger und interner und nicht etwa kurzfristiger und externer Prozeß war. Daß die gegenwärtige Situation aber notwendigerweise und nicht etwa akzidentiell aus dem Grundpostulat des Liberalismus heraus folgen mußte und dementsprechend eine „lineare“ Rückkehr in die Vergangenheit unmöglich ist und zwar nicht, weil das Spiel überreizt wurde, sondern weil der Wurm schon immer im Apfel steckte – das wird man in dem Buch trotz gelegentlicher, eher dekorativer Verweise auf de Tocqueville oder Böckenförde und der (völlig zutreffenden) Bezeichnung der gegenwärtigen Niedergangsphase als „Hyperliberalismus“ eher weniger thematisiert finden.
Insgesamt stellt sich daher auch am Ende der Lektüre des Buchs vor allem eine Frage: „So what“? Sicher, die Aufzählung der vielen Probleme unserer Gegenwart ist überaus verdienstvoll und unbedingt lesenswert. Wirklich originell ist sie aber nicht. Denn was einen Autor vor noch zehn Jahren publizistisch in die Reihen der Unberührbaren katapultiert hat, ist mittlerweile – selbst in Deutschland– so ziemlich im Mainstream angekommen. Und wenn es darum geht, aus der etwas disparaten Generalanalyse der Gegenwartslage auch jene Auswege zu skizzieren, die schließlich im Untertitel beschworen werden („Was kommt nach der liberalen Demokratie?“), sucht man vergeblich nach tragfähigen Perspektiven.
Zwar werden neben der möglichen Dystopie einer vertieften „hyperliberalen Postdemokratie“ auch die verschiedensten anderen „Antipoden“ – vom osteuropäischen „illiberalen“ Sozialkonservatismus über den autoritär-libertären Stadtstaat bis hin zu Putins pseudo-konservativem „Neofaschismus“ – kurz vorgestellt und (aus liberalem Blickwinkel) diskutiert und natürlich weitgehend verworfen. Auch wird halb hoffnungsvoll eine allmähliche „Trendwende“ hin zu einer Infragestellung der verschiedenen Grundlagen der woken Ideologie konstatiert – auch dies seit vielen Jahren eine weitverbreitete Hoffnung, wie ja auch der Sozialismus jahrzehntelang totgesagt wurde und doch immer weiter überlebte.
Wohin die Reise nun aber in Zukunft tatsächlich gehen wird, was nun also tatsächlich „nach der liberalen Demokratie kommt“, das überlassen die Autoren lieber der „offenen“ Geschichte, während die Frage, wohin sie denn am liebsten gehen sollte, durch eine letztlich etwas hilflos wirkende Aktualisierung der freien, liberalen, pluralistischen, mündigen und marktwirtschaftlichen Demokratie beantwortet wird – bei gleichzeitigem, sehr ehrlichem Zweifel daran, ob dies möglich sein wird.
Kann man dies den Verfassern vorwerfen? Wohl kaum: Die Aporie, in welche das Buch mündet, ist schließlich die Aporie unserer ganzen Gesellschaft. Trotzdem ist dieser Besprechung ein kleiner Wermutstropfen beizugeben: So stört die Tatsache, daß die Autoren zwar die inhärenten Probleme von Liberalismus wie Hyperliberalismus schonungs- und illusionslos offenlegen, dabei aber doch ein Weltbild vertreten, das ganz klassisch auf dem stetigen „Fortschreiten“ und der „Selbstemanzipation“ des Abendlands beruht. Tradition wie Glaube werden dabei nicht als identitäre Anker, sondern gewissermaßen Bremsen der Aufklärung interpretiert; Christentum wie Mittelalter erscheinen so gut wie gar nicht in dem gesamten Buch, obwohl sie die ultimative Basis der abendländischen Zivilisation darstellen. Auch ein kulturgeschichtliches Gespür für die zivilisationsspezifischen Elemente der liberalen Theorien des Abendlands sucht man ebenso vergebens wie ein Verständnis dafür, daß noch jede Zivilisation „ihren“ Liberalismus gekannt – und hinter sich gelassen hat. Und doch scheinen mir diese beiden Punkte den Schlüssel zur Antwort auf die Frage des Buchs zu geben: Der Liberalismus kann nur durch eine rationale Rückkehr zur Tradition gerettet werden, und auch das nur durch kluge Selbstbescheidung, Abkehr vom Universalismus und Einsicht in seine ultimative Verankerung in den Spezifika der abendländischen Zivilisation.
Kolja Zydatiss, Mark Feldon: Interregnum. Was kommt nach der liberalen Demokratie? Verlag Langen Müller München 2024, broschiert, 352 Seiten, 24 Euro