© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/24 / 18. Oktober 2024

Quartett der neuen Aufklärung
Verschlungene Wege aus selbstverschuldeter Unmündigkeit: Wolfram Eilenberger präsentiert die modernen Denker Adorno, Foucault, Feyerabend und Sontag
Dirk Glaser

Mit dem internationalen Bestseller „Zeit der Zauberer“ begann Wolfram Eilenberger 2018 seine populärphilosophische Trilogie, die er nach „Feuer der Freiheit“ (2020) nun mit „Geister der Gegenwart“ abschließt. Wieder präsentiert der langjährige Chefredakteur des Philosophie Magazins mit didaktischem Geschick einige Denker, in deren Leben und Werk sich die geistige Lage ihrer Epoche widerspiegeln soll. Standen 2018 Martin Heidegger, Ernst Cassirer, Ludwig Wittgenstein und Walter Benjamin für den Aufbruch in die philosophische und gesellschaftliche Moderne während der Weimarer Republik, versuchte „Feuer der Freiheit“ mit der Damenriege Hannah Arendt, Simone Weil, Simone de Beauvoir, Aynd Rand die 1930er Jahre und den Zweiten Weltkrieg philosophiehistorisch zu verdichten. Und jetzt ist es wiederum ein Quartett, bestehend aus Theodor W. Adorno, Paul Karl Feyerabend, Michel Foucault und Susan Sontag, das die intellektuellen Diskurse während der Jahrzehnte des Kalten Krieges mitprägte.

Allerdings hieße „Geister der Gegenwart“ wohl treffender Geister der Vergangenheit, denn zur Gegenwart des 21. Jahrhunderts zählt keiner der porträtierten Denker. Und warum lautet der Untertitel „Die letzten Jahre der Philosophie“, die ausgerechnet im Orwell-Jahr „1984“ enden? Gibt es etwa seitdem keine akademische Disziplin dieses Namens? Erscheinen seitdem keine Werke mehr, die Verlage als Philosophie vermarkten? Schließlich: „Beginn einer neuen Aufklärung“. Mit welcher Begründung fällt der exakt auf 1948? Die „Dialektik der Aufklärung“, von Adorno und Max Horkheimer 1947 in einem Exilverlag mehr verheimlicht als veröffentlicht, erst zwanzig Jahre später breit rezipiert, ist doch prima vista ein düsterer Abgesang auf den Vernunft- und Fortschrittsglauben, keine Fortsetzung des Aufklärungsbetriebs mit neuen Geschäftsinhabern. Und soweit Eilenberger seine anderen Helden in diese Rolle preßt, stimmt die Chronologie nicht, denn deren einer „neuen Aufklärung“ zugeordnete Arbeiten, Foucaults „Wahnsinn und Gesellschaft“ (1961) und „Die Ordnung der Dinge“ (1966), Feyerabends „Wider den Methodenzwang“ (1976), Sontags „Against Interpretation“ (1966) und selbst Adornos Hauptwerk „Negative Dialektik“ (1966) erscheinen erst lange nach 1948, der Erstausgabe von George Orwells Dystopie „1984“. 

Was Eilenbergers Protagonisten verbindet, ist die von Adorno, dem „Philosophen des beschädigten Lebens“, am deutlichsten explizierte Vision eines „richtigen Lebens“ humaner Individuen, die Verdinglichung und Entfremdung hinter sich lassen, um einen, „wahrhaft menschlicher Zustand“, Herbert Marcuses „repressionsfreie Gesellschaft“, oder kurz: das Paradies zu erreichen. Den Weg dorthin beschreibt Adorno immer noch im Sinne der „alten Aufklärung“, als „Erziehung zur Mündigkeit“. An dieser dürfen Philosophen insoweit mitwirken, wie sie darauf verzichten, ihr Denken in die geschlossene, „totalisierende“ Einheit eines Systems zu bringen, es vielmehr fragmentarisch anlegen, es flexibel und offen halten, um das Bewußtseins für das Nicht-Identische wachzuhalten, um die Wirklichkeit in Richtung Möglichkeit transzendieren zu können. 

Adornos Exegeten pflegen heute den „Anderen“ mit dem „Fremden“ gleichzusetzen, um die Kritische Theorie für den Multikulturalismus zu vereinnahmen. Tatsächlich hatte Adorno nur Minderheiten in den ethnisch relativ homogenen weißen Mehrheitsgesellschaften der atlantischen Zivilisation im Blick, zuerst und fast exklusiv die Juden. Schon die schwarzen US-Amerikaner und deren sich in den Rassenunruhen der 1960er entladender Kampf um Gleichberechtigung entzogen sich seiner Aufmerksamkeit. Wie Eilenberg eher am Rande mitteilt, interessierte die rassistische Grundierung der US-Gesellschaft diesen Sozialphilosophen nicht.  

Die frühreife Susan Sontag verstand Befreiung nicht als politisch-soziale, sondern als sexuelle Befreiung von jüdisch-puritanischen Moralnormen. Woraus sie ihren ganz privaten kategorischen Imperativ ableitete: „Ich will mit vielen Leuten schlafen.“ Dem gehorchte die bisexuelle Berkeley-Studentin dann als Dauergast in den Gay-Bars an der Bucht von San Francisco. In ihrer Polemik „Gegen Interpretation“ erwägt die zur transatlantischen Jetset-Ikone avancierte Sontag dann, daß die Pfade aus selbstverschuldeter Unmündigkeit jenseits sexueller Abenteuer vielleicht verschlungener verlaufen. Wie Adorno vertraut sie auf das Kunsterlebnis, das allein noch aus den Verblendungszusammenhängen der verwalteten Welt hinausführt. 

Der psychisch labile Michel Foucault, 1984 an Aids verstorbener Guru der „Diversen“, demonstrierte bereits als Student, daß nur der Suizid die radikalste Form der Selbstbefreiung sein könne. Der aufgrund schlecht verarbeiteter Homosexualität unternommene Versuch, das Ich von selbst zu befreien, mißlang ihm zwar 1950, inspirierte aber seine fulminante Kritik der rationalistischen Aufklärung, die hilft, die neuzeitliche „Disziplinargesellschaft“ auszubauen, das Individuum einer Dauerkontrolle zu unterziehen, in Gefängnissen und Irrenanstalten das Unbotmäßige und Jenseits der herrschenden Vernunft Existierende wegzusperren. Das Ideal dieser alten Aufklärung ist eine Gesellschaft ohne Wahnsinnige, während Foucault den Unterschied zwischen gesund und krank relativiert, um zu suggerieren, soziales Leben ließe sich mit Menschen gestalten, die geistig unfähig sind, sich am (für ihn historisch keineswegs alternativlosen) Realitätsprinzip zu orientieren. 

Der in der Wiener Tradition des Logischen Empirismus stehende Feyerabend vertraut hingegen auf ein weniger spektakuläres Rezept politisch wirksamer Aufklärung. Indem er die Irrelevanz der an angelsächsischen Universitäten dominanten analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie nachweist, die versprach, alle Scheinwahrheiten der Religion und Metaphysik im Säurebad der Sprachanalyse aufzulösen und durch klares Denken endlich zu richtigem Handeln anzuleiten. Mit der Zerstörung dieser Illusion meinte der philosophische Querdenker Meinungskorridore erweitern und Raum schaffen zu können eben für Querdenker seines Schlages.

Der Erfolg eines populärwissenschaftlichen Autors hängt von seinem Talent zur Vereinfachung komplexer Sachverhalte ab. Auch in „Geister der Gegenwart“ beweist Eilenberger dieses Talent. Was dem Leser jede kritische Perspektive abschneidet. Der darum, um nur bei Foucault zu bleiben, nichts über diesen sonderbaren Aufklärer als Apologeten des iranischen Mullah-Regimes oder als Vordenker von Dunkelmännern der Politischen Korrektheit und der Wokeness erfährt. 


Wolfram Eilenberger: Geister der Gegenwart. Die letzten Jahre der Philosophie und der Beginn einer neuen Aufklärung. , Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2024, gebunden, 496 Seiten, 28 Euro


Fotos: Theodor W. Adorno1950, Paul Feyerabend 1992, Michel Foucault 1981, Susan Sontag 1986: Sie prägten die intellektuellen Diskurse während der Jahrzehnte des Kalten Krieges mit