© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/24 / 18. Oktober 2024

Ein Friedensstaat, der keiner war
Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk analysiert die Geschichte der DDR-Bürger vor und nach 1989 und kratzt an Mythen über die Revolution gegen das SED-Regime
Johannes Fischer

Ilko-Sascha Kowalczuk zählt zu den renommiertesten deutschen Zeithistorikern und ist ein ausgewiesener Kenner der DDR-Geschichte. Mit „Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute“ legt er ein leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit vor und erteilt dabei antiwestlichen und antifreiheitlichen Bestrebungen eine klare Absage. Seine Grundthese dabei lautet, daß ein nicht unbeachtlicher Teil der ostdeutschen Gesellschaft ab dem Herbst 1989 einen „Freiheitsschock“ erlitten habe. Freiheit funktioniere aber nur, wenn sich der Einzelne bewegt und sich in seine eigenen Angelegenheiten einmischt.

Kowalczuk bezeichnet sein Buch selbst als „polemisch, scharf, kompromißlos“, denn für ihn ist Freiheit keine Kompromißformel. Es gebe nichts, was Freiheit relativieren ließe. Zugleich wehrt er sich gegen den seit Jahren über alle politischen Lager hinweg erfolgten Versuch, die Geschichte der Freiheitsrevolution von 1989 umzuschreiben. Entschieden tritt er gegen eine Verharmlosung der DDR-Diktatur ein, die er in der Behauptung ausmacht, heute sei wieder vieles ähnlich oder gar schlimmer als in der DDR, und wendet sich gegen die zunehmende Ostalgie und Verklärung der DDR. 

Über diese Verklärer schreibt der Berliner Historiker zugespitzt, daß sie eine große ostdeutsche Mehrheit repräsentieren würden und mit ihrer unverarbeiteten Diktatursozialisation weder die Vergangenheit noch die Herausforderungen der repräsentativen Demokratie und die Kraft der Freiheit verarbeitet hätten. Zudem habe es auch in der DDR Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus gegeben. Dies sei zwar offiziell verpönt gewesen, es durfte darüber nicht gesprochen werden. So tauchte beispielsweise der Holocaust in keinem DDR-Lehrplan auf, und dennoch gab es diese Geisteshaltungen in der Gesellschaft. Aus Kowalczuks Sicht fehlte nach 1990 eine Demokratie- und Freiheitsschule.

Als Historiker versteht er sein Handwerkszeug und räumt, mit einem entsprechenden Anmerkungsapparat versehen und quellengesättigt, mit einigen Legenden rund um die Geschichte der DDR und der Friedlichen Revolution auf. So sagt er beispielsweise über die Erzählung von der DDR als Friedensstaat, daß die bis heute von vielen gepriesene SED-Friedenspolitik nie wirklich eine gewesen sei, denn ganz oben auf deren ideologischer Agenda stand die Erziehung zum Haß auf den Klassenfeind, dessen Kernelement die Militarisierung des gesamten gesellschaftlichen Alltags war. Die DDR sei auch schon deshalb kein Friedensstaat gewesen, weil sie mit Mauer und Stacheldraht im permanenten Krieg gegen die eigene Bevölkerung stand. Zwar war die DDR nie aktiv in einem Krieg verwickelt (die Bundesrepublik aber auch nicht), doch hätte Walter Ulbricht 1968 zu gern bei der Niederschlagung des Prager Frühlings mitgemacht, drängte Erich Honecker 1981 zur Verteidigung des Sozialismus in Polen und wurden die sowjetischen Invasionen (1956 Ungarn, 1979 Afghanistan) von der SED begrüßt. Im Juni 1989 waren die SED-Vertreter sogar fast die einzigen weltweit, die China zur blutigen Niederschlagung der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking beglückwünschten.

Zu Kowalczuks unbequemen Analysen gehört, daß die Revolution von 1989 eine Angelegenheit einer Minderheit, die sich gegen die Diktatur stellte, gewesen sei. Revolutionen gingen immer von Minderheiten aus und müßten eine Mehrheit für sich gewinnen. Die übergroße Mehrheit der DDR-Bevölkerung wartete zunächst ab und stellte sich dann auf die Seite der Sieger. Zur Diktaturwirklichkeit der DDR gehöre nämlich, daß Millionen Menschen das System jahrelang mittrugen. 

Erst mit der für immer breitere Bevölkerungsschichten spürbaren wirtschaftlichen Krise, mit dem Zerfall des Macht- und Staatsapparates und der Flucht- und Ausreisebewegung begann die Erosion der SED und ihrer Diktatur, und erst dann konnte die Revolution gelingen. Keine Revolution, auch nicht die von 1989, gewinne gegen ein starkes System. Kowalczuk spart in seinen Betrachtungen aber auch nicht die Westdeutschen aus, die die Erfahrungen der DDR-Bürgerrechtsbewegung kaum ernst genommen hätten und bis heute nicht verstehen würden, daß drei Viertel der Ostdeutschen in den Jahren nach 1990 komplett der Boden unter den Füßen weggezogen worden sei: Mit dem Verlust des Arbeitsplatzes verloren sie auch ihre gesellschaftliche Einbindung sowie einen großen Teil ihrer menschlichen Beziehungen.

In den Jahren nach 1990 seien dann Erwartungshaltungen an den neuen Staat entstanden, der alles richten und ordnen müsse, die im Osten noch heute stark präsent seien. Zuerst die PDS/Linkspartei, später dann auch die AfD und das BSW, würden deshalb so gut abschneiden, weil sie genau auf diesen starken Staat setzen würden, der in den ostdeutschen Bundesländern wie selbstverständlich von großen Teilen der Bevölkerung erwartet wird. 

In den letzten Kapiteln seines Buches analysiert Kowalczuk daher recht nüchtern den Erfolg dieser drei Parteien. Dabei unterliegt er einer deutlichen Schwäche, indem er deren hohe Zustimmungswerte nur durch historische Deutungsmuster und ostdeutsche Diktaturerfahrung sowie die vermeintliche Sehnsucht nach dem starken Staat begründet. Er macht auch keinen Hehl daraus, was er persönlich von diesen Parteien hält, wenn er gar die Angst formuliert, Deutschland könnte wieder ein autoritärer Staat werden. Daß die hohen Zustimmungen auf der linken und rechten Seite des Parteienspektrums vielleicht auch etwas mit dem Versagen von Regierungsparteien zu tun haben könnten, kommt ihm gar nicht in den Sinn. 

Auch thematisiert er am Rande zwar die Herausforderung des digitalen Wandels, aber die Polarisierungen sowie die Verrohung der Sprache im digitalen Raum und deren mögliche Auswirkungen bleiben ebenso unbeachtet. Nun muß man nicht allen Kapiteln dieser streitbaren Schrift zustimmen, dennoch kann „Freiheitsschock“ als ein leidenschaftlicher Aufruf zur Mitgestaltung der Demokratie gelesen werden, die Kowalczuk als eine „Aushandlungsarena“ beschreibt, wo es eben auch um gegenseitige Zugeständnisse und das Finden von Kompromissen geht. Das sei, so Ilko-Sascha Kowalczuk, das Wesen von Demokratie und Freiheit.


Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute. Verlag C.H. Beck, München 2024, gebunden, 240 Seiten, 22 Euro