© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/24 / 18. Oktober 2024

Epochales Ereignis
Der Schweizer Jacques Baud, die israelische Journalistin Lee Yaron und die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur erzählen die Geschichte des Hamas-Massakers vom 7. Oktober 2023 aus unterschiedlichen Perspektiven
Sandro Serafin

Für den Nahen Osten war der Überfall palästinensischer Terroristen auf Israel vor einem Jahr ein epochales Ereignis. Und so wundert es nicht, daß der Literaturmarkt zum ersten Jahrestag eine Bücherschwemme zum Thema erlebt. Eines der Werke ist „Die Niederlage des Siegers“ von Jacques Baud. Baud ist ehemaliger Mitarbeiter des Schweizer Geheimdienstes. Er hat in der Vergangenheit unter anderem zum Ukraine-Krieg publiziert, aber auch zu „fatalen Strategien des Westens“ im Kampf gegen den Terror.

Sein Buch macht auf den ersten Blick den Eindruck einer umfassenden Analyse aus der Vogelperspektive. Er steigt nicht sofort am 7. Oktober ein, sondern schildert zunächst allgemeinere Hintergründe, etwa zur Palästinenserfrage oder zum Gazastreifen, bevor er konkret auf das Ereignis selbst und die anschließende israelische Reaktion eingeht. Leider wird bei der Lektüre schnell deutlich: Der Autor argumentiert nicht nur völlig einseitig zugunsten der Palästinenser, er stellt vielmehr hanebüchene Theorien auf, die das Buch insgesamt im besten Fall vollumfänglich unseriös machen, im schlimmsten Fall sogar zu Hamas-Propaganda.

Bauds Grundthese ist die, daß Israel als dummes, strafloses, quasi judäofaschistisches „Imperium“ permanent Völkerrecht breche, die Ursache des Palästinenser-Terrors nicht verstehe, ihn sogar durch Gewalt selbst hervorgebracht habe und weiter nähre. Für den Autor ist der jüdische Staat damit die Ursache allen Übels. Die Hamas hingegen stellt er als kluges Opfer dar, als „Widerstand“, der „nichts mit Judenhaß gemein“ habe, der sich auf das Völkerrecht berufe und bereit sei, Israel anzuerkennen, von Israel aber durch dessen Politik dazu „verdammt“ werde, „eher den militärischen Weg zu wählen“.

Man wird nicht danebengreifen, wenn man Baud ein manichäisches Weltbild unterstellt. Im Konkreten weiß man gar nicht, wo man anfangen und aufhören soll, um den Irrsinn auseinanderzunehmen. Es fängt schon damit an, daß Baud die biblischen „Philister“ zu „Vorfahren“ der Palästinenser erklärt, eines Volkes, das erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als solches an die Weltöffentlichkeit getreten ist. Immer wieder stellt Baud Israel explizit auf eine Stufe mit dem Nationalsozialismus. Er schreibt, man habe es bei Israel „mit einem Typ von Regierungshandeln zu tun, der mit dem Islamischen Staat verwandt ist“. Wie bitte? 

Ein methodisches Muster ist, daß Baud angebliche Belege für seine Auffassung bringt, aber den erdrückenden Gegenbeweis einfach unter den Tisch fallen läßt, wenn er nicht ins Weltbild paßt. Zu ertragen ist das noch, wenn er die israelische Militäroperation im Gazastreifen für gescheitert erklärt, weil die Hamas immer noch Raketen abschießen könne. Die Wahrheit ist, daß die Raketenabschüsse massiv auf nahe Null reduziert werden konnten.

Viel übler aber ist Bauds Umgang mit dem 7. Oktober selbst. Er erzählt den Einfall der Hamas als eine Aktion, die als saubere militärische Operation geplant wurde. Ernsthaft behauptet er, „daß  das Ziel nicht im Töten von Zivilisten bestand“, und erweckt den Eindruck, daß ein Großteil der Menschen durch die Israelis selbst getötet wurde. Kein Wort über die zahlreichen Zeugenaussagen und Videoaufnahmen, die das Gegenteil, die ein unvorstellbares Massaker, angerichtet durch palästinensische Terroristen, belegen und seit Monaten systematisch in Online-Archiven gesammelt werden. Selbiges gilt auch für seine Darstellung, wonach die Geiseln von der Hamas angeblich gut behandelt werden und wurden.

Man möchte Baud ans Herz legen, sich mit einem anderen gerade erschienenen Buch zu befassen, das sich als „eine erste Abwehrlinie“ versteht – „eine Abwehr gegen Verzerrung, eine Abwehr gegen das Vergessen“. In „Israel, 7. Oktober“ protokolliert die linke israelische Journalistin Lee Yaron auf Basis von Zeitzeugeninterviews und weiteren Quellen einige Lebensgeschichten rund um diesen Schreckenstag. Dabei ist es der Autorin gelungen, eine vielfältige Auswahl zu treffen, durch die deutlich wird, in welcher Breite und Tiefe die israelische Gesellschaft durch das unvorstellbare Massaker getroffen wurde.

Yaron erzählt die Geschichte einer schwangeren Beduinin, der die Terroristen in den Bauch schossen, genauso wie die Geschichte eines religiösen Juden, der im dreißig Kilometer Luftlinie von Gaza entfernten Ofakim menschliche Überreste beerdigen mußte. Sie berichtet von den massakrierten jungen Menschen auf dem Nova-Festival ebenso wie von den Senioren, die in Sderot bei einer Seniorenreise kaltblütig hingemordet wurden, und von den linken Aktivisten, die sich für Frieden mit den Palästinensern einsetzten und trotzdem massakriert wurden.

Sie bringt dem Leser die Schicksale von Ukraine-Flüchtlingen, die in den Kugelhagel gerieten, genauso nahe wie das asiatischer Gastarbeiter, die auf dieselbe Weise hingemetzelt wurden wie ihre jüdischen Arbeitgeber. Und sie geht auch auf die ein, die nicht am 7. Oktober selbst ihr Leben verloren, sondern an den Folgen zugrunde gingen: der Busfahrer, der unter Lebensgefahr Menschen aus der Apokalypse evakuiert hatte und sich später das Leben nahm, weil er das Erlebte nicht verarbeiten konnte; und die Organisatorin von Trauerfeiern, die, nachdem sie zahlreiche Schicksale begleitet hatte, einen Herzinfarkt erlitt.

Der Autorin gelingt es zugleich, Einblicke in die komplexen Biographien der Opfer zu geben und somit jedem einzelnen seine Geschichte zurückzugeben. Durch die Intensität der Darstellung und die Vielzahl der Erlebnisse wird dem Leser bei der Lektüre ein hohes Konzentrationsvermögen abverlangt. Eine Gute-Nacht-Lektüre ist dieses Werk definitiv nicht, aber gerade deswegen ist es wichtig.

Um eine ganz andere Perspektive geht es wiederum in dem Buch „Wie geht’s? Miteinander sprechen nach dem 7. Oktober“, verfaßt von der liberalen französischen Rabbinerin Delphine Horvilleur. Sie erinnert uns daran, daß das Hamas-Massaker nicht nur die jüdische Gemeinde in Israel, sondern auch die in der Diaspora ins Mark getroffen hat. In Form mehrerer innerer Zwiegespräche eröffnet die Autorin dem Leser einen teils etwas abstrakt-philosophischen Einblick in ihren Seelenzustand.

Horvilleur unterhält sich zum Beispiel mit ihren verstorbenen Großeltern, die unterschiedlicher nicht sein könnten: der Großvater ein assimilierter Jude durch und durch, die Großmutter dagegen warnend vor dem Frankreich, „das ihr so liebt“, das aber die Juden letztlich nicht schützen werde. Plötzlich tendiert die Autorin zur Stimme der Verzweiflung ihrer Großmutter, die sie in den Jahren zuvor verdrängt hatte. Eine andere Auseinandersetzung führt Horvilleur mit „Antirassisten“, die plötzlich an der Spitze des Judenhasses stehen: „Früher drehte der Händler den Leuten gleichzeitig antisemitischen Ramsch und rassistischen Nippes an. (…) Heute ködert er den Kunden paradoxerweise oft im Namen seines Antirassismus.“

Über das Buch hinweg wird eine tiefe Verunsicherung der Autorin deutlich, Hilflosigkeit und eine Angst, die „aus den Tiefen der Zeit“ wieder hochzukommen scheint, auch ein Stück Verwirrung und das Gefühl, verlassen zu sein – unverstanden von der Welt und von denen, die sich kurz zuvor noch „Freund“ nannten. Es ist, als müßte Horvilleur plötzlich wieder gnadenlos eintreten in die Abgründe der jüdischen Verfolgungsgeschichte. Aus ihrer linken Haut kann sie bei alledem nicht: Sie will es versuchen mit Dialog und appelliert daran, auch die andere Seite weiter wahrzunehmen.

Jacques Baud: Die Niederlage des Siegers. Der Hamas-Angriff – Hintergründe und Folgen. Westend Verlag, Frankfurt am Main 2024, gebunden, 488 Seiten, 32 Euro




Lee Yaron: Israel, 7. Oktober. Protokoll eines Anschlags. Auf Basis von zahlreichen Interviews mit Angehörigen und Überlebenden. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024, gebunden, 320 Seiten, 26 Euro




Delphine Horvilleur: Wie geht’s? Miteinander sprechen nach dem 7. Oktober. Hanser Verlag, Berlin 2024, gebunden, 128 Seiten, 20 Euro