© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/24 / 18. Oktober 2024

Der Flaneur
Niemals aufhören
René Langner

Geh doch mal wieder eine Runde laufen.“ Die Worte meiner Tochter erinnern daran, daß es für mich höchste Zeit wird, den Kopf frei zu bekommen. Auch meine Frau scheint mich bestärken zu wollen: „Wir sehen uns in einer Stunde.“

Ein paar Minuten später bin ich unterwegs. Kurz hinter dem Wohngebiet durchquere ich das angrenzende Wäldchen und erreiche im Anschluß den nahe gelegenen See, der am heutigen Tag fast menschenleer erscheint. Ich entspanne mich merklich und stelle fest, daß sich auch meine Gedanken, die sich bis gerade eben noch um alltägliche Verpflichtungen und Aufgaben gedreht haben, mehr und mehr in Ruhe und Gelassenheit zu verwandeln scheinen.

Wie eine Art Waschmaschine für Körper und Geist, kommt mir beiläufig in den Sinn. Und obwohl das wöchentliche Laufen grundlegend zu meinem Leben gehört, wie für andere der sonntägliche Kirchgang, habe ich es in letzter Zeit doch ein wenig schleifen lassen. Während ich darüber nachdenke, woran dies liegen mag, wird mir sehr schnell bewußt, daß weder mein Job noch meine Familie hierfür verantwortlich sind, sondern ausschließlich ich selbst.

Kurz bevor ich den See umrundet habe,nähere ich mich einem älteren Mann.

Früher wurde ich des öfteren gefragt, was mich beim Laufsport antreiben würde. Damals war meine Reaktion stets die gleiche: „Ich will unbedingt einen Marathon schaffen.“ Heute wären meine Antworten darauf so vielschichtig: Manchmal ist es der Wunsch nach Stille. Hin und wieder der Versuch, dem Irrsinn, der uns tagtäglich umgibt, zu entfliehen. 

Kurz bevor ich den See umrundet habe, nähere ich mich einem Mann. Als ich mit ihm gleichauf bin, bemerke ich sein hohes Alter. Ich reduziere mein Tempo und suche das Gespräch: „Darf ich Sie etwas fragen?“

„Ich vermute mal, Sie wollen wissen, wie alt ich bin? Zumindest ist das die gängige Frage, die man mir hier am See recht häufig stellt“, entgegnet er sehr freundlich. Ohne auf meine Antwort zu warten, teilt er mit, daß er bereits 82 Jahre alt sei.

Bevor ich mich an der nächsten Weggabelung verabschiede, möchte ich noch etwas von ihm wissen: „Was ist Ihr Geheimnis?“ Seine Antwort ist so einfach wie auch einleuchtend zugleich: „Niemals damit aufhören.“


Es gibt eine Weisheit, die man nur mit Narben erlangt.

Leonard Cohen, Musiker und Schriftsteller (1934–2016)