Chronisten unserer Zeit sind schon daran gewöhnt, daß in Deutschland sehr viel Merkwürdiges passiert. Zum Beispiel auf Sylt: Ein paar Schnösel verballhornen besoffen den Neunziger-Disco-Hit „L’amour toujours“ von Gigi D’Agostino und singen dazu „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“, weil dazu zuvor ein ähnlicher Clip aus der Provinz durchs Netz geisterte. Ein Handyvideo der Nordsee-Sause schlachten linke Medien und Politiker genüßlich aus und führen es als „Beweis“ für einen angeblichen Rechtsruck ins Feld. Selbst ein Abspielverbot des Songs wird diskutiert: Man könnte sich ja zur unverfänglichen Musik den bösen Text denken.
Doch statt gecancelt und vergessen wird „Das Lied“ zum Meme, zum Soundtrack der Remigration-Forderung. Dem italienischen Künstler beschert der Wirbel ein Comeback, seine aktuellen Auftritte sind voll. Ein Konzert des DJs in Graz Anfang Oktober war innerhalb einer Rekordzeit ausverkauft. Und jeder weiß, warum. Diese Story könnte nicht mal ein Relotius erfinden.
Aus fast verbotenen Liedern werden Kultsongs und Memes
Wer bösartig wäre, könnte irgendein Lied irgendeines Unterhaltungssängers – sagen wir, von Herbert Grönemeyer, Udo Lindenberg oder Smudo – mit einem albernen rechts-toxischen Text versehen und in sozialen Medien verbreiten, um damit zu erreichen, daß die Melodie auch ohne Worte zum rechten Symbol wird und auf keinem Stadtfest oder sonstigem Event mehr gespielt werden darf – und gerade dadurch an Protest und Provokation interessierte aufmüpfige Teenager erst recht triggern. Denn längst sind die „Nazi!“-Schwerter stumpf. Rechte erobern die diffamierten und negativ besetzten Objekte einfach zurück und kreieren selbstbewußte Wiedererkennungsmerkmale.
So auch das Prinzip bei der Fortsetzung der Musik-Posse: Bei der Wahlparty der AfD in Brandenburg kam der „Atzen“-Hit „Hey, das geht ab“ zum Einsatz. Das junge Publikum war kreativ: Aus „Hey, das geht ab, wir feiern die ganze Nacht“ wurde in Anlehnung an einen KI-Internetclip im Chor „… wir schieben euch alle ab“. Nun dasselbe Spiel: Der unpolitische Originalsong ist ins AfD-Lackierbad gefallen und zirkuliert nun als „blaues“ Lied im Netz. Mit Konsequenzen, denn „Die Atzen“ aus Berlin schalten ihren Anwalt ein. In einem Rundschreiben hat der Brandenburger AfD-Landesvorsitzende René Springer daraufhin die „sehr geehrten Mitglieder und Förderer“ dringend und unter Androhung von Geldzahlungen aufgefordert, das Lied „Wir schieben sie alle ab“ nicht mehr abzuspielen. Der Partei drohten sonst hohe Strafen, denn sie hat eine Unterlassungserklärung unterzeichnet. Doch Jugendliche aus dem Parteivorfeld fern offizieller Veranstaltungen wird das kaum abschrecken. Zumal der Hit auch ohne den neuen Refrain funktioniert. Die Melodie reicht, um die Anspielung zu verstehen, und ist so zum Abschiebe-Schlager geworden.
Und es geht weiter: Mitte September titelte der notorische Spiegel angesichts der hohen Wahlerfolge der AfD unter Heranwachsenden mit einem blauen Turnschuh mit rotem AfD-Pfeil. Immerhin hat der rote AfD-Pfeil eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Logo der Modemarke Nike, das sich auch auf deren Sportschuhen findet. Am Tag der Deutschen Einheit zeigte ein Nutzer bei X plötzlich echte blaue Nike-Sneaker mit rotem Pfeil. Fast eine Million anderer Nutzer schauten sich das Foto an und kommentierten es tausendfach.
Das führte zu einer beispiellosen Nachfrage nach Nike-Turnschuhen in AfD-Blau mit rotem „Swoosh“. Einige fanden heraus, daß es im Nike-Onlineshop einen Farbkonfigurator gibt, bei dem man für das Modell Air Force 1 die gewünschte Farbkombination frei wählen kann. Zusätzlich kann auf der Ferse ein individualisierter Schriftzug aufgedruckt werden – zum Beispiel die Buchstabenkombination „AfD“. Die Ironie: Das Hamburger „Scheißblatt“ (O-Ton Willy Brandt 1974) wollte mit dem ikonischen Bildmotiv Jugendliche vor der AfD warnen – und hat den AfD-Schuh stattdessen zum Kultobjekt gemacht.
Zahlreiche Kommentatoren freuten sich und warnten gleichzeitig: „Muß ich haben – und dann damit zu Edeka“, aber „schnell bestellen, bevor sie verboten werden“. Und Nike reagierte tatsächlich nachdem einige Internet-Blockwarte den US-Konzern auf den bösen „rechten“ Schuh aufmerksam gemacht hatten. Die Farbkombi ist zwar weiterhin möglich, allerdings steht der AfD-Schriftzug nicht mehr zur Verfügung. Beim dritten Buchstaben ploppt ohne Erklärung lediglich der Hinweis auf: „Der Text entspricht nicht den Personalisierungsoptionen“. Es ist ein Hase-und-Igel-Spiel: Das Establishment kann verbieten, canceln und tabuisieren soviel es will, pfiffige Spaßvögel finden immer wieder einen neuen Weg, um Stigmata und Warnhinweise positiv umzudeuten. Das erinnert an den kurzfristigen Hype um Bierglas- und Brezel-Emojis, die von linken Schreiberlingen vor einigen Jahren als rechte Symbolik markiert wurden. Darauf ergoß sich eine wahre Flut von Bierkrügen und Brezeln auf Instagram & Co. So läßt man die Verbieter und Warner aussehen, wie das, was sie sind: alte Spießer!