Durch Rußlands Krieg gegen sein östliches Nachbarland rückte Polen im Frühjahr 2022 zum wichtigsten Verbündeten der Ukraine auf. Zwei Drittel der polnischen Bevölkerung zeigte persönlichen Einsatz, stellte für Massen geflüchteter Ukrainer Unterkünfte und Hilfsgüter bereit. Auch die gegenseitigen Sympathiebezeugungen zwischen Warschau und Kiew hätten herzlicher nicht ausfallen können, wie Matthäus Wehowski (TU Dresden) in seinem Rückblick auf „Erinnerungskonflikte“ zwischen beiden Staaten feststellt (Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 3-4/2024).
Und doch genügte ein im Juni 2022 geführtes Podcast-Interview mit Andrij Melnyk, dem damaligen ukrainischen Botschafter in Berlin, um die neue nachbarliche Harmonie zu trüben. Hatte der Diplomat doch Stepan Bandera (1909–1959), eine so antipolnische wie antisemitische Führungsfigur des ukrainischen Radikalnationalismus vor 1945, als „Inbegriff des Freiheitskämpfers“ gerühmt. Der auf dem Fuße folgende Protest des polnischen Außenministeriums geriet so scharf, daß sich die Kiewer Kollegen prompt von Melnyk distanzierten.
Moskaus Propaganda nahm Bandera-Mythos dankbar auf
Aber dessen Bandera-Lob verstimmte nicht nur die Polen, es sorgte nach Ansicht der nationalkonservativen Regierungspartei PiS auch für „Freude im Kreml“. Schien es doch unbeabsichtigt den geschichtspolitischen Part der russischen Legitimierung einer „militärischen Spezialoperation“ zu stützen, deren Ziel die Liquidierung des Kiewer „Neonazi-Regime“ sei. Seit Bandera 2010 zum „Helden der Ukraine“ ausgerufen worden war, seitdem die Mitglieder der von ihm geprägten Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und die Kämpfer ihres an der Seite der Wehrmacht fechtenden militärischen Arms (UPA) 2015 per Dekret zu „Helden der ukrainischen Unabhängigkeit“ aufrückten, dient der Bandera-Mythos dankbaren Moskauer Propagandisten zur „Anbräunung“ der Ukraine.
Dabei schrieben sie nur fort, was sie nach 1945 gemeinsam mit Historikern der Volksrepublik Polen praktizierten: die Dämonisierung der „Banderisten“ als Sinnbildern des Faschismus. Untermauerten die Sowjets diese Anklage mit dem UPA-Einsatz gegen die Roten Armee, verwies Warschau gern auf den „Terror“ der 1930er, mit dem Banderas OUN auf die brutale Unterdrückung der starken ukrainischen Minderheit im polnischen Vielvölkerstaat antwortete. Hingegen galt es unter den Waffenbrüdern des Warschauer Paktes als Tabu, was erst ab 1990 einen bislang schwelenden Erinnerungskonflikt entfachte: der 1943 von der UPA an etwa 130.000 polnischen Zivilisten in Ostgalizien verübte Genozid. Für Wehowski wurzelte er in einer auf ethnische Homogenisierung fixierten völkischen Ideologie, der auch Polen huldigte, als es 1946 etwa 480.000 Ukrainer in die UdSSR deportierte und die restlichen 140.000 in die soeben „ethnisch gesäuberten“ preußisch-deutschen Ostprovinzen abschob.
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