In der Agonie zusammenbrechender politischer Systeme kommt unweigerlich der Punkt, an dem die abgewirtschaftete Regierung versucht, ihre Herrschaft durch den Einsatz nackter Gewalt zu retten. Diese Phase war in Polen am Anfang der 1980er Jahre erreicht. Der Ausnahmezustand unter dem Kriegsrecht vom Dezember 1981 war die letzte Karte, die das kommunistische Regime im Interesse seines Machterhaltes ausspielen konnte.
Aber diese Karte stach nicht. Obwohl der Einsatz der Armee in erstaunlich kurzer Zeit die Ge-werkschaft Solidarność lahmlegte, verschärfte sich die Krise, weil nun der wahre Antagonist des Kommunismus den Kampf um die Freiheit aufnahm. Die Rede ist von der katholischen Kirche Polens, die, unterstützt von Karol Józef Wojtyła, als polnischer Papst Johannes Paul II. in Rom, mit ihren Priestern im ganzen Land Opposition und Widerstand artikulierte. Der bekannteste Protagonist und Märtyrer dieser Bewegung wurde der polnische Priester Jerzy Popiełuszko.
Jerzy Popiełuszko war 1947 in der polnischen Provinz Podlachien geboren worden, hatte das Priesterseminar in Warschau absolviert und sich als junger Geistlicher in der Seelsorge für die Mitglieder der Gewerkschaft Solidarność engagiert. Seit 1983 wurde er als Pfarrer der Kirche St. Stanislaus Kostka im Warschauer Stadtteil Zoliborz mit seinen „Messen für das Vaterland“ landesweit bekannt. Ganz ähnlich wie dem tschechischen Dissidenten und späteren Staatspräsidenten Vaclav Havel ging es Popiełuszko um das „Leben in der Wahrheit“. „Leben in der Wahrheit bedeutet, die Wahrheit äußerlich zu bezeugen, sich zu ihr zu bekennen“, predigte der junge Priester, ohne die damit zusammenhängenden Konsequenzen zu verschweigen: „Unsere Gefangenschaft beruht darauf, daß wir uns der Herrschaft der Lüge ergeben statt sie zu demaskieren oder gegen sie täglich zu protestieren.“
Primas Kardinal Glemp riet ihm vorher, das Land zu verlassen
Merkwürdigerweise versagten gegenüber Popiełuszko die üblichen Einschüchterungsmaßnahmen der polnischen Staatssicherheit. Popiełuszko ließ sich weder durch Vorladungen, Anklagen und Verhaftungen, selbst nicht durch fingierte Hinterlegung von Waffen und Pornozeitschriften in seinem Haus, von seinem Weg abbringen. Er verlas Briefe von Inhaftierten vor seiner Gemeinde, und als die Staatssicherheit den 19jährigen Grzegorz Przymek, den Sohn einer politischen Aktivistin, totschlug, bezichtigte der Priester unter einem überlebensgroßen Bild des Getöteten während einer Predigt das Regime öffentlich des Mordes.
Spätestens in dieser Phase, im Herbst 1984, fiel in der Abteilung IV des polnischen Innenministeriums die Entscheidung zu Popieluszkos Ermordung. Die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ausgewerteten Akten zeigten, daß zunächst diverse Mordpläne verworfen wurden. Schließlich verfiel man darauf, den Priester auf einer seiner Dienstreisen zu ermorden und diesen Überfall als kriminellen Übergriff zu kaschieren. Unmittelbar beteiligt waren die drei Geheimpolizisten Grzegorz Piotrowski, Waldemar Chmielewski und Leszek Pękala unter der Leitung ihres direkten Vorgesetzten Oberst Adam Pietruszka.
Diese Pläne blieben der Kirchenleitung nicht verborgen, so daß der katholische Primas Kardinal Józef Glemp Popiełuszko dringend nahelegte, das Land zu einem Studienaufenthalt in Richtung Rom zu verlassen. Popiełuszko aber lehnte ab. Möglich, daß sich der junge Priester durch die Rückendekkung des Papstes und seine eigene Bekanntheit sicher fühlte, aber er sollte sich täuschen.
Der polnische Geheimdienst wußte, daß Popiełuszko es vorzog, nach dem Besuch einer Nachbarstadt stets noch in der gleichen Nacht nach Warschau zurückzukehren. So war es auch am Abend des 19. Oktober 1984, als sein Wagen auf der Rückfahrt von Bromberg nach Warschau in der Nähe von Thron von vermeintlichen Verkehrspolizisten gestoppt wurde. Der Chauffeur Waldemar Chrostowski wurde gefesselt, Popiełuszko selbst zusammengeschlagen und in den Kofferraum verfrachtet. Allerdings lief nach der Gefangennahme des Priesters alles schief. Zunächst gelang es dem Chauffeur, sich trotz seiner Fesselung aus dem Wagen zu werfen und im nächtlichen Wald zu entkommen. Bei einem kurzen Halt gelang es Popiełuszko, sich aus dem Kofferraum zu befreien und zu fliehen. Doch er wurde eingeholt, erneut schwer mißhandelt und ohnmächtig in den Kofferraum geworfen. Schließlich drohte der Wagen stehenzubleiben, weil das Fahrzeug kein Getriebeöl mehr besaß. Der ursprüngliche Plan, den gefangenen Priester nach Warschau zu bringen, wurde deswegen fallengelassen. Die Täter fuhren zum Staudamm von Wloclawek, steckten den wahrscheinlich noch lebenden Priester in einen Sack und warfen ihn aus 15 Metern Höhe in den See. Als die furchtbar zugerichtete Leiche des Priesters am 30. Oktober 1984 gefunden wurde, stand das Regime unter Wojciech Jaruzelski am Pranger der Welt, und Popiełuszkos Begräbnis in Warschau wurde zu einer monumentalen Manifestation der Bevölkerung gegen das Regime.Lech Wałęsa, der Führer der verbotenen Gewerkschaft Solidarność hielt vor Hunderttausenden eine Trauerrede, die sogar im US-amerikanischen Fernsehen live übertragen wurde. Kurz darauf wurden die vier Mörder aufgespürt und verhaftet.
Was sich derweil im Hintergrund der Macht abspielte, ist bis heute nicht ganz geklärt. Am wahr-scheinlichsten ist, daß der Mord an Popiełuszko Teil eines Drehbuchs war, nach dem die Hardliner der Partei den als zu „weich“ angesehenen Parteichef Jaruzelski stürzen wollten. Als angesichts der weltweiten Empörung die Unterstützung aus Moskau ausblieb, sahen sie sich plötzlich isoliert und mußten einen öffentlichen Prozeß fingieren, der das Regime reinwaschen sollte. In einer Prozeßfarce sondergleichen stellten die Mörder ihre Aktion als ihre eigene Idee dar und verneinten jede Verwicklung höherer Parteikreise. Immer wenn die Verhandlung sich heiklen Fragen wie der Mitwisserschaft des Geheimdienstchefs Miroslaw Milewski oder Innenminsters Czesław Kiszczaks näherte, würgte der vorsitzende Richter Artur Kujawa die Erörterungen sofort ab. Am Ende erhielten Oberst Pietruszka und der Haupttäter Piotrowski 25 Jahre, die Mittäter Pekala und Chmielewski 15 bzw. 14 Jahre Haft.
Polnische Arbeiterpartei war durch den Popiełuszko-Mord desavouiert
Soweit, so theoretisch. Praktisch kamen alle Mörder im Zuge diverser Amnestien und Strafreduktion lange vor dem Ablauf ihrer Strafe frei. Wahrscheinlich leben sie noch heute in Polen unter falschem Namen. Alle Ermittlungen, die nach dem Sturz des Kommunismus gegen die höheren Parteichargen aufgenommen worden waren, verliefen im Sande. Belastende Dokumente verschwanden oder wurden als Fälschungen deklariert. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, daß die polnische Richterschaft, die zu großen Teilen noch aus der kommunistischen Ära stammte, bei diesen Ermittlungen keinen sonderlichen Ehrgeiz an den Tag legte.
Ihr Ziel aber haben die Mörder nicht erreicht. Der harte und extrem gewaltbereite Kern der polnischen Arbeiterpartei war durch den Popiełuszko-Mord desavouiert, so daß Parteichef Jaruzelski hinreichend Spielraum erhielt, mit Rückendeckung Moskaus 1989 den Schulterschluß mit der Solidarność zu wagen. Daß auch dieser letzte Versuch der Machterhaltung fehlschlug und Lech Wałęsa im Dezember 1990 zum polnischen Staatspräsidenten gewählt wurde, ist eine andere Geschichte, die allerdings ohne den Märtyrertod Popiełuszkos nicht denkbar gewesen wäre.
Jerzy Popiełuszko wurde im Jahre 2010 von der katholischen Kirche selig gesprochen. Am Eingang des polnischen Nationalklosters von Jazna Góra befindet sich heute eine Popiełuszko-Skulptur in unmittelbarer Nachbarschaft der Denkmäler von Kardinal Wiszynsky und Papst Johannes Paul II. Popiełuszkos Grab neben der Kirche St. Stanislaus Kostka ist ein nationales Wallfahrtziel.
Foto: Jerzy Popiełuszko (M.) mit Lech Walesa (r.) erinnern im August 1983 in der Danziger Brigittenkirche an den Solidarność-Streik von 1980: Polen gedenkt bis heute des Märtyrertodes