Too big to fail“ – nach diesem Überlebensgesetz der großen Finanzkrise von 2008 wurden damals marode, aber systemrelevante Großbanken mit Steuermitteln wieder aufgepäppelt. Gustav Stresemann übertrug diese Erkenntnis bereits Jahrzehnte zuvor auf die Staatenwelt. Denn systemrelevant für die Weltwirtschaft war das geschlagene Deutschland auch noch nach dem Ersten Weltkrieg, hing doch der Wohlstand des Kontinents mit der Bedeutung Deutschlands als florierender Konsum- und Exportmarkt für die Siegerstaaten aufs engste zusammen. Das erkannte er mit messerscharfer Logik. Und deshalb gab er 1925 die Devise aus: „Man muß so viel Schulden haben, daß der Gläubiger seine eigene Existenz mitgefährdet sieht, wenn der Schuldner zusammenbricht.“
Da sprach kein dumpfer Revanchist, der die Demütigung von Versailles mit Gewalt und Krieg auslöschen wollte. Da sprach ein gewiefter Taktiker, der ein Sensorium für die wechselseitigen ökonomischen Abhängigkeiten hatte. Dieser Grundsatz wurde zu seinem politischen Werkzeug, mit dem er in einem geduldigen Entfesselungsakt die Ketten von Versailles nicht sprengen, sondern lockern wollte. Er war überzeugt, daß man Konfrontation durch Kooperation und Vergeltung durch Verflechtung ersetzen mußte.
Der internationale Finanzkreislauf, den er Mitte der zwanziger Jahre auf den Weg brachte, war der Zauberstab, der das zerstückelungsbegierige Paris an die kurze Leine der New Yorker Wallstreet legte. Denn die US-Amerikaner pumpten fortan Millionen an Anleihen nach Deutschland, die man in Form von Reparationen nach London und Paris weitergab, was die Ententemächte ihrerseits in die Lage versetzte, ihre Weltkriegsschulden in den USA abzutragen. Damit rettete er die bedrohte Einheit des Reiches, damit wurde das verfemte Deutschland vom Paria zum Partner. Und damit machte er aus dem taumelnden, ausgebluteten Land binnen kurzer Zeit ein blühendes Gemeinwesen.
Diese Jahrhundertgestalt, mit einer leicht näselnden, metallisch preußischen Stimme und einem massigen, gedrungenen Körper, der unaufhörlich von schlimmen Krankheiten gepeinigt wurde, von Schilddrüsenüberfunktion, Niereninsuffizienz, grippalen Infekten und Herzattacken, kam aus kleinen, bescheidenen Verhältnissen: aus der Luisenstadt, im Berliner Südosten. Dort, in der Köpenicker Straße 66, wurde er als jüngstes von acht Kindern der Eltern Ernst August und Mathilde geboren, die eine Schankwirtschaft betrieben, wo der Vater am Zapfhahn stand und die Mutter noch selbst die Buletten briet. Dieses kleinbürgerliche Milieu lieferte auch das Thema für seine Dissertation im Fach Nationalökonomie, über das seine politischen Gegner immer wieder spotteten, wenn ihnen gar nichts anderes einfiel: „Die Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschäfts“.
Dieser „Flaschenbierdoktor“, wie der promovierte, arbeitslose Germanist Goebbels später höhnte, hatte, als er 1907 in den „Hottentottenwahlen“ für den Erzgebirgswahlkreis Annaberg mit 28 Jahren als jüngster Abgeordneter in den Reichstag einzog, schon eine beindruckende Karriere in der Industrie hingelegt. Sie hatte im Verband der Schokoladefabrikanten in Dresden begonnen und ihn in die Spitzenämter des „Centralverbandes Deutscher Industrieller“ geführt. Als Exponent der Fertigwarenindustrie war er, anders als die Großagrarier und die Schwerindustriellen, ein Mann der sozialen Versöhnung: mit Tarifverträgen, Streikrecht und moderaten Importzöllen. Damit könne man, wie er sagte, „das Heer der Unzufriedenen, das Heer derjenigen, die auf den Staat keine Hoffnung mehr setzen“, befrieden.
Sein Bestreben nach sozialem Ausgleich war der eine Grund, weshalb sich an seiner Person die Geister schieden: in seiner Partei, der liberalen Deutschen Volkspartei, im Parlament, im Volk und in der Regierung, deren höchste Posten er über Jahre hinweg bekleidete. Den anderen Grund hatte er in einem Büchlein von 1918 selbst auf die knappe Formel gebracht: „Macht und Freiheit“. Einerseits: liberale und soziale Reformen im Innern, die die Klassenschranken niederrissen. Aber, andererseits, auch eine machtvolle imperialistische „Weltpolitik“ nach außen: mit Flotte, Kolonien, U-Boot-Krieg gegen England und Kriegszielforderungen, wie Calais als „deutschem Gibraltar“. „Uns fehlt die Ausdehnung nach Osten und Westen, um Kronstadt auf der einen Seite und Dover auf der anderen Seite in Schach zu halten“ – solche Töne machten ihn zu „Ludendorffs Kriegstrompete“.
Wenn schon wenig später von ihm ganz andere Klänge zu hören waren, ja wenn der abgehalfterte Ludendorff seinen einstigen glühenden Adepten nun als „künstlichen Juden“ diffamierte, dann hatte dies nichts mit Opportunismus zu tun. Vielmehr zeigte sich nun jene Eigenschaft, die zur Basis seines gesamten politischen Wirkens wurde: die Fähigkeit zur Realpolitik. Er, der Monarchist und Annexionist, stellte sich ab 1920 auf den Boden des Faktischen, denn, wie er sagte, „das System, das uns hierher führte, hat sein Recht verwirkt“. Er wurde, wie man damals sagte, zum „Vernunftrepublikaner“, dem Deutschland zu verdanken hatte, daß es unter der Bürde des Versailler „Schmachfriedens“ nicht auseinanderfiel, daß Hyperinflation und Separatismus gebändigt, daß Währung und Haushalt saniert wurden und daß man im September 1926 unter tumultartigen Jubelszenen, wie sie der Genfer Völkerbundspalast nie wieder erlebte, als geachtetes Mitglied in den Kreis der Mächte zurückkehrte.
Seine Landsleute haben ihm das nie gedankt. Anerkennung wurde ihm nur außerhalb Deutschlands zuteil, wie sich an der Verleihung des Friedensnobelpreises 1926 ablesen ließ. Er bekam ihn für ein Vertragswerk, das in Locarno, einem Städtchen im Tessin, paraphiert wurde, an Bord des Motorboots „Orangenblüte“. Dem Kapitän hatte er die Anweisung erteilt, so lange auf dem Lago Maggiore zu kreuzen, bis er hatte, was er wollte. Als das Boot am späten Abend endlich wieder am Hafen anlegte, stöhnte sein französischer Kollege Aristide Briand auf: „Gott sei Dank – ich weiß nicht, was wir noch alles zugestanden hätten, wenn diese Spazierfahrt noch länger fortgesetzt worden wäre.“
Mit seinem Einfallsreichtum und seiner scharfen Ablehnung der Radikalen hätte er auch zum Rettungsanker der ersten deutschen Demokratie werden können. Aber das ließen das Schicksal und sein Tod, drei Jahre bevor Hitler in die Reichskanzlei einzog, nicht zu.
Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.