Die Buchmesse in Leipzig war bis 1989 monatelang erwartete Verheißung, Verlockung und fiebriges Wittern. Man erzählt mir noch heute von den langen Mänteln, in die Schlaufen eingenäht waren, paßgenau für ein Suhrkamp-Taschenbuch. Es durfte am Körper nicht auftragen, denn dann wäre es den Ordnungskräften in den Gängen und im Treppenhaus des Leipziger Messehauses am Markt aufgefallen und der schöne Raubzug wäre dahin gewesen. Wenn so ein Buch dann die Tür nach außen passierte, lag ihm noch ein langer Weg bevor – es wurde selbst gelesen, dann weiterverliehen, dann abgeschrieben –, zurück kam es zerlesen, mit Anstrichen versehen und dürftig zusammengeklebt.
1990 fand die erste gesamtdeutsche Buchmesse in Leipzig statt. Nicht sehr erfolgreich, wie man nachlesen kann – nur 25.000 Besucher fanden den Weg dahin. „Die schönen Zeiten sind vorbei“, hatte damals der Direktor des Ostberliner Union-Verlages auf einer eilig improvisierten Pressekonferenz konstatiert. Ab jetzt regiere ein vollkommen anderer Markt als jener, der 40 Jahre lang das Buchverlagswesen in der DDR prägte. Nun würden Verlagsprogramme „bereinigt“ und es würden wohl Entlassungen erfolgen, verkündete er.
Da stießen in der Buchbranche zwei Welten und Ansichten aufeinander, was auch ein „Fairneß-Papier“, das die Mitglieder des DDR-Börsenvereins den Frankfurtern zum marktwirtschaftlichen Umgang miteinander vorlegten, nicht überdecken konnte. Dieses Statut kam nicht zum Zuge, denn die Konditionen wollte man sich als Sieger schließlich nicht diktieren lassen.
Meine Lehrzeit als Buchhändlerin begann 1991, ich geriet mitten hinein in diese Umstrukturierung des ehemaligen Volksbuchhandels der DDR. Auch hier sollten vorerst die erdachten Fairneß-Programme greifen, die die Versorgung der Bevölkerung mit Büchern auch in kleineren Städten beibehalten sollten. Schließlich war das Netz des volkseigenen Buchhandels flächendeckend mit Läden, die dennoch vor 1990 mit Interessantem und Lizenzen oft nur spärlich gefüllt waren. Da wurde nun schnell noch zusätzlich Platz gemacht für Überraschungspakete, die der Buchhändler auf der ersten Leipziger Buchmesse 1990 zum Kurs von 1:1 offeriert bekam. Und viele Leser rieben sich die Augen angesichts der Fülle von Trivialliteratur aus ebenjenen „Überraschungspaketen“, gefüllt mit Ladenhütern von jenseits der geöffneten Grenze. Was man als Trophäe von der Leipziger Buchmesse vor Jahren noch mitbrachte, fand hier keinen Platz mehr. Der Westen kam mit dem, was er zur Genüge hatte: mit den Dickdruckbänden, den Ratgebern, den Reiseführern und den Taschenbüchern. Ich erinnere mich an eine schnell eröffnete Dresdner Filiale des Bertelsmann-Buchclubs, wo am Eröffnungstag die Dresdner anstanden, um Mitglied zu werden. Nicht wenige verließen diesen Club nach der Mindestlaufzeit wieder, enttäuscht über das Niveau des literarischen Programms.
Denn die DDR war ein Leseland, ein Land für den Leser, der sich hinwegtragen lassen wollte aus der grauen, ewig gleichen Tristesse. Nun stellte sich das Neue, das Bunte als gleichermaßen trist heraus, und es dauerte nur wenige Jahre, bis die Leser an einen Ort pilgerten, wo die literarischen DDR-Verlagsproduktionen der Wendezeit abgekippt wurden. Abgekippt und vorausschauend sortiert für kommende Zeiten, wenn der Verdruß über allzu Farbiges Lust auf Graustufen macht.
Das Messehaus am Markt, wo die Buchmesse in Leipzig noch fünf Jahre stattfand, war nicht nur für mich als Jungbuchhändlerin und baldige Gründerin des Buchhauses Loschwitz in Dresden noch ein Ort des langen Luftholens, eines Atemschöpfens nach Zeiten des Mangels. Die dunklen Gänge, die engen Stände mit den rauchenden Herren, die die Köpfe zusammensteckten und nur selten einen Blick an die Besucher verschwendeten, stahlen sich sehr schnell aus dem Gedächtnis, als 1996 die neue Messe in Leipzig eröffnet wurde. Ein Palast, ein lichtdurchfluteter, gläserner Eingangsbereich mit Treppen, die hinauf, enthoben in die Messehallen hineinführen. Ein erwartungsvoller Gang, und ein wirklich lichtes Erleben für mich noch bis in die frühen Zweitausender Jahre. Es schien, als ob der Buchmarkt sich erholt und eine Balance gefunden hätte zwischen der existentiellen Schwere der DDR-Literatur und dem lebensbejahend Leichten des bundesrepublikanischen Marktes, der das Politische im Gegensatz zu den wenigen DDR-Verlagshäusern aber nicht nur als Marotte, sondern als immerwährenden Impetus von Popper bis Habermas weiterpflegte.
Die Messestände wurden größer, individueller, für das Publikum begehbar, und anfänglich traf man sogar noch die Verleger der kleinen und großen Häuser, die Leipzig als einen Ort der Gespräche und des Lesens priesen. Geschäfte wurden hier nie gemacht, das war für den Herbst in Frankfurt vorbehalten, da hielt man als Geistesmensch an Leipzig dennoch fest. Man schätze dort das Gemütliche, das Sächsische und die noch immer hungrigen Leser dieser Breiten, versicherte man sich noch einige Jahre lang.
In dieser herrlichen Aufbruchsstimmung wurden fröhliche Verlagsabende für Buchhändler und Freunde abgehalten und fanden Lesungen an den verschiedensten innerstädtischen Orten statt. Denn einen großen Nachteil hat ein solcher Messetempel vor den Toren von Leipzig: Am Abend liegt er dunkel und verwaist. Ich erinnere mich an eine Straßenbahnfahrt zum Gohliser Schlößchen mit Siegfried Unseld, der zum Verlagsabend des Insel-Verlags einlud und dort, ganz kreativer Unternehmer, davon erzählte, daß ein eingelegtes Ginkgoblatt in dem Insel-Buch „Goethe und der Ginkgo“ in Weimar für zusätzliche Verkaufszahlen sorge. Der Abend ist mir mit diesem lebendigen Geist in der Mischung aus fesselnder Erzählung und mitreißendem Habitus in Erinnerung geblieben, macht mich heute froh und traurig zugleich.
Der Verlagsstandort und Insel-Gründungsort Leipzig wurde nach und nach abgewickelt, und gerade vor ein paar Wochen konnte man lesen, daß der augenscheinlich wirtschaftlich angeschlagene Suhrkamp-Verlag das Verlegerhaus in der Frankfurter Klettenbergstraße – Ort für zahlreiche Kritiker,-Autoren und Buchhändlerempfänge – verkaufen mußte. Und nur ein paar Tage ist es her, daß von einem „Befreiungsschlag“ die Rede war, weil der Suhrkamp-Verlags-Anteilseigner Dirk Möhrle nun auch die übrigen Anteile der Familie und der Stiftung komplett übernommen hat. Mit dem Ausscheiden der Witwe von Gründer Siegfried Unseld ist der Name Unseld dann ausradiert.
In Erscheinung trat der neue Eigentümer bis dato als Immobilienunternehmer, er führte bis 2005 eine familien-eigene Baumarktkette und ist seit elf Jahren Miteigentümer der Hamburger Wirtschaftszeitschrift Impulse. Im Zusammenhang mit dieser Nachricht habe ich sofort an den 1991 erfolgten Verkauf der ehrwürdigen Aufbau-Verlagsgruppe an den Frankfurter Immobilienunternehmer Bernd F. Lunkewitz denken müssen, der den Verlag über Jahre hinweg ins marktkonforme Fahrwasser brachte, dann aber im Zuge von Streitigkeiten mit der Treuhand 2008 Insolvenz anmelden mußte.
Und so ist die Buch- und Verlagsbranche dann doch auch immer von den stetig wechselnden Winden aus Wirtschaft und Politik konfrontiert, geprägt und letztlich diesen wohl auch ausgeliefert. Die letzten zehn Jahre habe ich als selbständige Buchhändlerin der Gründergeneration nach 1989 und mittlerweile auch als Verlegerin unsere Branche als sehr politisiert wahrgenommen. Wenn es noch in den Zweitausender Jahren möglich war, daß eine wirkliche Vielfalt von Verlagen auf den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt präsent war, ist mit dem steten Absingen der Begriffe von Toleranz, Respekt und eben der Vielfalt genau diese verschwunden.
Fast unsichtbar geworden, denn spätestens die Vorkommnisse auf der Frankfurter Buchmesse im Jahr 2017 haben eine neue Qualität zutage treten lassen. Eine Qualität, die eben nichts mit geistiger Auseinandersetzung, wie es noch einige Jahre zuvor Usus war, zu tun hat, sondern nur noch mit dem Wunsch nach dem Verschwinden mißliebiger noch bestehender politischer Meinungen und verlegerischer Ausprägungen. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der just in diesem Jahr sein 200jähriges Bestehen feiert und in Zeiten schwindender Mitgliedszahlen nun auch an uns gerichtet, die wir noch 2017 ausgetreten waren, auf postalischem Weg mit Rabatten winkend um neue Mitglieder ringt, hatte damals zur „aktiven Auseinandersetzung“ mit als rechts markierten Verlagen aufgefordert. Dies erfolgte nicht nur zu nächtlicher Stunde mit der Zerstörung der Verlagsstände und Bücher, sondern auch in Form einer Demonstration des Börsenvereins mit gereckten Plakaten vor diesen Ständen, auf denen von Toleranz, Respekt und Vielfalt zu lesen war.
Unsere „Charta 2017“ als offener Brief an den Börsenverein war damals die schnelle Reaktion darauf und weniger von dem Wunsch nach Mobilisierung getragen als vielmehr als empfundene Zäsur zum Schaden der Meinungsfreiheit als verbrieftem Grundrecht. Und schon dies hat ausgereicht, um wiederum uns als Andersdenkende zu markieren, die nun persönlich und wirtschaftlich zu bekämpfen waren. Nur, daß diese „Charta 2017“ eben nicht eine Fußnote in der Buchhandelsgeschichte blieb, sondern als Auftakt für nachfolgende Appelle und Petitionen stand, zeigt, daß verschiedene grundrechtliche Freiheiten immer sichtbarer in Bedrängnis gerieten.
Aus der Notwendigkeit heraus, den immer zahlreicher werdenden Autoren, die zu verschwinden drohen, einen verlegerischen Ort zu geben, entstand unsere Reihe „Exil“. Seit 2020 erschienen in dieser Reihe fast 30 Bücher, die literarisch und essayistisch als Kommentare zur Zeitpolitik zu lesen sind. Mit diesen Büchern habe ich in den letzten Jahren in Leipzig auf der Buchmesse einen eigenen Verlagsstand der Edition Buchhaus Loschwitz präsentiert. Und obwohl, gerade in Leipzig, die Aktivitäten der „Verlage gegen Rechts“ und die im Vorfeld sich immer weiter verstetigende Ausgrenzung aller nichtlinken Verlage hohe Feste feierten, konnten wir ungestört Gäste, Kunden und Freunde empfangen.
Ich war auch mittendrin, als zur diesjährigen Eröffnung die Aufforderung erging, zum Schutz „unserer Demokratie“ die auf den Plätzen ausgelegten Zettel hochzuhalten. Man ahnt, was auf diesen bunten Papieren stand: Respekt, Toleranz, Vielfalt … Die Pressefotos davon gingen um die Welt, und leider sind es ebendiese Bilder, die Geschichte für die Nachgeborenen sichtbar prägen. Im nächsten Jahr also werden wir, so habe ich daraufhin beschlossen, nicht Teil dieser Inszenierung in Leipzig sein.
Im Jahr 1990 fand übrigens parallel zur ersten gesamtdeutschen Leipziger Buchmesse eine kleine, eine alternative Buchmesse statt und bot den neuen DDR-Verlagen sowie deutschsprachigen Klein- und Independent-Verlagen eine Präsentationsmöglichkeit. Wir werden dieses Bild aufnehmen und im November nächsten Jahres neben der vielleicht stattfindenden Leipziger Buchmesse und neben der Frankfurter Buchmesse eine eigene Messe für Bücher, für Leser und für Verlage organisieren, die sich mit Büchern und Autoren offen zeigen wollen. Und mit dem bereits gefundenen und zugesagten Medienpartner, dem Kontrafunk-Radio, werden wir genau die Reichweite erzielen können, vor der jene, die unsere Freiheiten beschneiden wollen, wohl die größte Angst haben.
Susanne Dagen, Jahrgang 1972, ist Buchhändlerin, Verlegerin und Kommunalpolitikerin in Dresden. Sie leitet das Buchhaus Loschwitz, das zahlreiche Schriftsteller anzieht. Zudem verlegt sie die „Exil“-Reihe. 2015 und 2016 erhielt sie den Deutschen Buchhandlungspreis. https://kulturhaus-loschwitz.de