In seinem autobiographischen Spätwerk „Dichtung und Wahrheit“ schreibt Johann Wolfgang von Goethe mit der ihm eigenen Koketterie und in der dritten Person über seinen Eindruck nach der Veröffentlichung des Briefromans „Die Leiden des jungen Werthers“ im September 1774 folgendes: „… das größte Glück oder Unglück, daß jedermann von diesem seltsamen jungen Autor, der so unvermutet und kühn hervorgetreten, Kenntnis gewinnen wollte. Man verlangte ihn zu sehen, zu sprechen, auch aus der Ferne etwas von ihm zu vernehmen.“
Der fünfundzwanzigjährige Dichter, der sich schon durch sein Theaterstück „Götz von Berlichingen“ einen Namen gemacht hat, erlangt durch den „Werther“ (auf das Kasus Genitiv-s der vor 250 Jahren erschienenen Urfassung wird in späteren Ausgaben zugunsten des gefälligeren Dativs verzichtet) internationalen Ruhm. Das Werk wird in viele Sprachen übersetzt und ganz Europa kennt fortan den Namen Goethe. Allein von Napoleon Bonaparte wird kolportiert, daß er den „Werther“ sagenhafte sieben Mal gelesen haben soll.
Besonders bei der Jugend ist das Werk sehr begehrt
Nicht begeistert waren, nach dem Erscheinen und dem großen Erfolg des Buches, Charlotte (Lotte) Kestner, geborene Buff, und ihr Mann Johann Christian, die unfreiwilligen Protagonisten. Hatte Goethe ihm gnädigerweise den Alias-Namen Albert gegeben, so ließ er Lotte unter ihrem eigenen Namen auftreten. Ein Umstand, der der jungen Frau viele Peinlichkeiten brachte, wie Kestner in einem Brief an Goethe betont. Ein interessantes Detail aus dem Leben der Goethes und Kestners ist sicherlich, daß Goethes Mutter, Catharina Elisabeth, das Ehepaar Kestner noch vor Erscheinen des „Werthers“ kennenlernt und eine gegenseitige Wertschätzung entsteht. Sie wird Patin bei deren erstem Kind. Auch Goethes Schwester Cornelia pflegte bis zu ihrem frühen Tod regelmäßigen Briefverkehr mit Lotte und Christian Kestner.
Besonders bei der Jugend ist das Werk jedoch begehrt. Im Schicksal des jungen Helden, dem kein Vorname vergönnt ist, finden nicht wenige Parallelen zu ihrem eigenen Leben. Und das dürfte nicht frei gewesen sein von ähnlich romantisch-leidenschaftlichen Gedanken und Gefühlen, die in der unglücklichen, weil vergeblichen Liebe Werthers zu Lotte zum Ausdruck kommen. „Ich ihr Mann! O Gott, der du mich machtest, wenn du mir diese Seligkeit bereitet hättest, mein ganzes Leben sollte ein anhaltendes Gebet sein“, schreibt Werther am 18. Juni an seinen Freund Wilhelm. Und er denkt sogar darüber nach, wie es wäre, wenn sein Konkurrent, Lottes Verlobter Albert, stürbe.
Neben Liebe und Leidenschaft spricht Goethe auch das Eingesperrtsein in Konventionen und Pflichten an. So heißt es in Werthers Brief vom 20. Januar an Lotte: „Die Sonne geht herrlich unter über der schneeglänzenden Gegend, der Sturm ist hinüber gezogen, und ich muß mich wieder in meinen Käfig sperren.“
Wegen Gefährdung der Moralwird das Buch verboten
Auch gesellschaftliche Verhältnisse, in denen es dem Adel erlaubt ist, sich in Selbstgefälligkeit zu ergehen, bleiben nicht unerwähnt. So läßt Goethe seinen Werther an einem Tanzvergnügen teilnehmen und ihn von seinem Vorgesetzten, dem Grafen von C., mit den Worten hinauskomplimentieren: „Die Gesellschaft ist unzufrieden, merke ich, Sie hier zu sehen.“
Alles zusammen führt zu einer Schwermut, die jede Seite des Textes durchzieht und in den Zeilen zum Ausdruck kommt: „Des Abends nehme ich mir vor, den Sonnenaufgang zu genießen, und komme nicht aus dem Bette; am Tage hoffe ich, mich des Mondscheins zu erfreuen, und bleibe in meiner Stube. Ich weiß nicht recht, warum ich aufstehe, warum ich schlafen gehe.“
In Deutschland kommt es zum „Wertherfieber“. Die Anhänger Werthers zeigen ihre Begeisterung durch das Tragen der sogenannten Werthertracht, bestehend aus einem blauen Frack, gelber Weste und Hose sowie Stiefeln mit braunen Stulpen. Auch soll die Anzahl der Selbsttötungen infolge der Lektüre angestiegen sein. Daraufhin wird das Tragen der Werthertracht und auch das Buch in vielen Städten wegen Gefährdung der Moral verboten, was sicherlich den Reiz, es zu lesen, erhöht haben mag. Dazu schreibt Goethe in „Dichtung und Wahrheit“: „Wie ich mich nun aber dadurch erleichtert und aufgeklärt fühlte, die Wirklichkeit in Poesie verwandelt zu haben, so verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie glaubten, man müsse einen solchen Roman nachspielen und sich allenfalls selbst erschießen; und was hier im Anfang unter wenigen vorging, ereignete sich nachher im großen Publikum, und dieses Büchlein, was mir so viel genützt hatte, ward als höchst schädlich verrufen.“
Goethe verrät in seiner Autobiographie, daß ihn das Thema der Selbsttötung nicht erst beim Schreiben seines Romans beschäftigt hat, sondern daß es vielmehr der Auslöser für das Verfassen des „Werthers“ war. „Unter einer ansehnlichen Waffensammlung besaß ich auch einen kostbaren wohlgeschliffenen Dolch“, läßt er den Leser wissen. „Diesen legte ich mir jederzeit neben das Bette, und ehe ich das Licht auslöschte, versuchte ich, ob es mir wohl gelingen möchte, die scharfe Spitze ein paar Zoll tief in die Brust zu senken. Da dies aber niemals gelingen wollte, so lachte ich mich zuletzt selbst aus.“ Die Ideen sind da, doch es fehlt ihm noch „eine Begebenheit, eine Fabel, in welcher sie sich verkörpern könnten“. Da erreicht ihn eine Nachricht Kestners über den gemeinsamen Freund Karl Wilhelm Jerusalem, der nur einen einzigen Weg, seiner unglücklichen Liebe zu einer verheirateten Frau entsagen zu können, sieht und Selbstmord begeht. „In diesem Augenblick“, so Goethe in „Dichtung und Wahrheit“, „war der Plan zu Werthern gefunden …“
Ein tragischer Umstand ist es, daß Kestner seinem Freund Jerusalem unwissentlich die Pistolen für die verzweifelte Tat leiht. So wie im Roman Albert seine Pistolen Werther, ohne zu ahnen, was dieser vorhat, zur Verfügung stellt.
Goethe verbietet seinen Freunden, ihn zu besuchen, schiebt alles zur Seite, was nicht unmittelbar mit seinem geplanten Werk zu tun hat, und in nur vier Wochen schreibt er jenen Roman, der zum Kanon der Weltliteratur gehören wird.
Sind in der Figur des Werthers sowohl der Verfasser als auch der tote Freund Jerusalem vereint, so vereint die Figur der Lotte ebenfalls nicht nur die Namensgeberin. Nochmals Goethe hierzu: „… und so nahm ich mir die Erlaubnis, an der Gestalt und den Eigenschaften mehrerer hübscher Kinder meine Lotte zu bilden. Obgleich die Hauptzüge von der geliebtesten genommen waren.“
Tatsächlich ist Goethe, als er seinen Werther schreibt, schon wieder verliebt. Dieses Mal in Maximiliane, Tochter der bekannten Schriftstellerin Sophie von La Roche, deren schwarze Augen er seiner literarischen Lotte andichtet. In „Goethes Gespräche“, herausgegeben von Flodoard von Biedermann, hat sich folgende Prahlerei Goethes überliefert: „Es ist angenehm, wenn sich eine neue Leidenschaft in uns zu regen anfängt, ehe die alte noch ganz verklungen ist. So sieht man bei untergehender Sonne gern auf der entgegengesetzten Seite den Mond aufgehen und erfreut sich an dem Doppelglanze der beiden Himmelslichter.“
Foto: Das knallbunte Graffiti am Lottehaus im hessischen Wetzlar zeigt Johann Wolfgang von Goethe mit Charlotte Buff: Internationaler Ruhm