© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/24 / 18. Oktober 2024

Auf Svenjas Sofa Platz nehmen
Essay: Svenja Flaßpöhler, Chefredakteurin des Philosophie-Magazins, hat ein kluges Buch zum Thema „Streiten“ geschrieben
Thorsten Thaler

Der Riese Antaeus, Sohn des Poseidon (Gott der Meere) und der Gaia (Göttin der Erde), war ein recht rauflustiger Geselle. Jeden Fremden, der des Weges daherkam, forderte er zum Ringkampf heraus. Regelmäßig gewann er diese Zweikämpfe und tötete seine Gegner. Aus ihren Schädeln baute er seinem Vater einen Tempel. Antaeus galt wegen seiner außerordentlichen Kraft als unbesiegbar. Eines Tages jedoch kam Herakles auf seinem Weg in den Garten der Hesperiden vorbei. Auch ihn nötigte Antaeus zum Ringkampf. Das Duell war lange Zeit ausgeglichen. Doch dann bemerkte Herakles, daß Antaeus seine Stärke aus der Erde bezog, solange seine Füße den Boden berührten. Daraufhin hob er ihn in die Luft, und als die Kräfte des Antaeus schwanden, erwürgte er ihn.

Die aus der griechischen Mythologie stammende Geschichte ist in zahlreichen Kunstwerken dargestellt, Skulpturen wie Gemälden. Zu den beeindruckendsten Bildern gehört „Hercules und Antaeus“ des spanischen Malers Rafael Tegeo Díaz (1798–1856). Es hängt heute in der Königlichen Akademie für Schöne Künste von San Fernando in Madrid. Und als Sinnbild für Streit ziert es nun auch den Umschlag des Buches „Streiten“ von Svenja Flaßpöhler; ob glücklich gewählt angesichts des Umstands, daß in dem Mythos einer der beiden Streitenden sein Leben verliert, sei dahingestellt. Ein aufmerksamkeitsheischender Hingucker ist es in jedem Fall.

In ihrem im Hanser-Verlag erschienenen Essay widmet sich die Philosophin und Journalistin Flaß-pöhler, seit 2108 Chefredakteurin des Philosophie-Magazins, dem Thema „Streit“ auf drei Ebenen, die sie klug miteinander zu verschränken weiß: einer autobiographischen, einer philosophischen und einer politisch-gesellschaftlichen. Ihr Credo dabei ließe sich in einem an Descartes angelehnten Leitsatz zusammenfassen: Ich streite, also bin ich. Oder besser ins Allgemeine gewendet: Nur wenn wir streiten, kann es überhaupt ein Wir geben.

„In jedem Streit, der diesen Namen verdient, gibt es einen entscheidenden Augenblick“, schreibt Flaßpöhler. „Es handelt sich um einen Moment nicht länger als ein Wimpernschlag, der das ganze Leben enthält, in dem alle Erfahrungen, die ein Mensch gemacht hat, aufgehoben sind. Die Entscheidung, jetzt, in dieser Millisekunde, lautet: Bleiben oder gehen. Das Bündnis halten – oder kappen. Worte finden, die, auch wenn sie klar und hart sind, ein Weiter ermöglichen – oder diese Anstrengung unterlassen.“

Daß die Autorin damit in Zeiten wie diesen, geprägt von Aus-dem-Weg-Gehen und Cancel-Kultur, einen Nerv trifft, ist offensichtlich. Soeben erst hat der liberalkonservative Chefredakteur der Schweizer Weltwoche, Roger Köppel, festgehalten: „Wir leben im Zeitalter der Brandmauern und Bezichtigungen. Es gibt keine Auseinandersetzungen zwischen Andersdenkenden mehr. Wer etwas sagt, was Anstoß erregt, wird gecancelt. Die anderen schwelgen in moralischem Hochmut und betrügerischem Einvernehmen.“ Diesem Befund entgegenzuwirken, ist auch das Anliegen von Svenja Flaßpöhler.

Grundlegend dafür sind ihre eigenen familiären Erfahrungen. Geboren 1975, ist sie noch keine zwei Jahre alt, als sich ihre Eltern trennen, der Vater auszieht. Auch die zweite Ehe der Mutter ist von Streitigkeiten bis hin zu Handgreiflichkeiten geprägt. Svenja Flaßpöhler ist vierzehn, als ihre Mutter die Familie verläßt „und sich auch nach uns Kindern nicht mehr umdreht“. Sie bleibt mit ihren Geschwistern beim Stiefvater. Die willensstarke, rebellische Jugendliche zerbricht daran erstaunlicherweise jedoch nicht. Mit achtzehn zieht sie aus, um in Münster Philosophie zu studieren. 2006 wird sie promoviert. Rückblickend schreibt sie in ihrem Buch: „In meiner Kindheit habe ich erlebt, wohin Streit führt, wenn der Affekt als reine Zerstörung agiert:  zur Auflösung aller Bindungen.“

Ähnliches erfährt sie auch später in ihrem Berufsleben, insonderheit während ihrer Beschäftigung beim Deutschlandfunk Kultur als leitende Redakteurin für Literatur und Geisteswissenschaften. Immer wieder stieß sie dort auf Vorbehalte und Ablehnungen, wenn es darum ging, auch vom Mainstream abweichende Stimmen – umstrittene rechte Positionen – im Programm zu Wort kommen zu lassen. In den Redaktionssitzungen blieben derartige inhaltliche Kontroversen ausgespart. Deswegen stattete Flaßpöhler ihr Büro mit einem von ihrem eigenen Gehalt gekauften Sofa aus, das sie symbolisch zu einem Ort für alle machen wollte, die sich fühlten wie sie: „ausgefranst, intellektuell unterfordert, neugierig auf andere Sichtweisen“. Motto: Her mit dem Streit!

So erwarb sich Flaßpöhler rasch den Ruf eines Störenfrieds und einer Provokateurin. „Speziell in der Abteilung Kultur galten, so habe ich es erlebt, rechtskonservative Positionen als nahezu indiskutabel“, schreibt sie. Bücher rechter Verlage seien „regelrecht mit einer Art Berührungsverbot“ belegt worden. Und selbst Einladungen an Rüdiger Safranski oder Peter Sloterdijk standen dort unter Ideologieverdacht.

Flaßpöhler hingegen wollte sich damit nach dem Grundsatz audiatur et altera pars, man höre auch die andere Seite, nicht abfinden. Detailliert schildert sie zum Beispiel die Auseinandersetzungen in dem Sender um das in dem rechten Verlag Antaios erschienene, von einer Sachbuchbestenliste gecancelte Buch „Finis Germania“ des Historikers Rolf Peter Sieferle oder die Tumulte auf der Frankfurter Buchmesse 2017 um einen Auftritt der Philosophin Caroline Sommerfeld, die dort ihr gemeinsam mit Martin Lichtmesz verfaßtes Buch „Mit Linken leben“ vorstellen wollte. Flaßpöhler sollte darüber im Deutschlandfunk berichten. In ihrem Kommentar kritisierte sie den linken Protest als illiberal und forderte die Bereitschaft, einander erst einmal zuzuhören. Fortan war sie endgültig der „AfD-Maulwurf“. In einem solchen Klima aber mochte sie nicht mehr länger arbeiten. Nach nur einem Jahr kündigte sie ihre Stelle und übernahm die Chefredaktion des Philosophie-Magazins. Ihr Streit-Sofa nahm sie mit.

In dem philosophischen Teil ihres Essays setzt sich Flaßpöhler vor allem mit Jürgen Habermas und seiner Theorie vom „herrschaftsfreien Diskurs“ auseinander, in dem in einer idealen Sprechsituation „der zwanglose Zwang des besseren Argumentes“ zählen soll. Nach und nach setzt sich in seinem Modell, basierend auf den für alle Diskursteilnehmer geltenden Bedingungen Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit, die Vernunft durch, die schlußendlich zu einem Konsens führt. Flaßpöhler nun hält dem Staatsphilosophen die Sollbruchstelle seiner Argumentation entgegen: „Fundamentales Nichtverstehen und unüberwindbare Differenzen innerhalb einer Diskursgruppe sind im vernunftbasierten Konsensmodell von Habermas schlicht nicht vorgesehen. Doch sind genau diese Grabenkämpfe häufig die schmerzliche kommunikative Realität.“

In diesen Fällen trete an die Stelle einer differenzierten Betrachtung der jeweiligen Äußerungen schnell „ein fast hysterischer Abwehrreflex“, so Flaßpöhler. „Sobald sich ein anderes Denken artikuliert, das bestimmte Normen und Werte nicht teilt, setzt Panik und eine affektgesteuerte Hermeneutik des Verdachts ein.“ Beispielhaft nennt sie gegenwärtige Diskussionen um Migrationsbegrenzung, Impfzwang während der Corona-Pandemie oder Angriffskriege und Waffenlieferungen an die Ukraine. Flaßpöhler plädiert bei solchen kontrovers geführten Debatten, in denen sich die Geister scheiden, dafür, genau hinzuschauen: „Eine politisch fundamental andere Meinung, die eigene, linksliberale Wert- und Weltvorstellungen schmerzhaft herausfordert, ist nicht gleich faschistisch. Diese Differenz wird oft verwischt.“ In diesen Kontext paßt noch einmal Roger Köppel in der Weltwoche (Ausgabe vom 10. Oktober): „Streit und Auseinandersetzung sind das Lebenselixier der Freiheit, der Demokratie. Indem ich streite, mich mit seinen Argumenten auseinandersetze, nehme ich den anderen ernst.“

In dieser Überzeugung dürfte sich auch Svenja Flaßpöhler wiederfinden. Was bedeutet Streit für sie? In ihrem Schlußkapitel schreibt sie: „Zu streiten heißt, ein Gegenüber nicht kalt als Feind abzustempeln, sondern die Mühen der Argumentation auf sich zu nehmen.“ Sie zitiert den im linksliberalen Milieu ebenfalls als mindestens „umstritten“ geltenden Staatsrechtler Carl Schmitt: „Die politische Welt ist ein Pluriversum, kein Universum.“ Leben und leben lassen, jeder soll denken und sagen, was er will. Laut Flaßpöhler würde Schmitt Streitenden, die nicht mehr weiterwissen, „also vielleicht dies raten: Laßt euch doch eure Sichtweisen. Und wenn ihr es nicht ertragt, dann lebt in getrennten Welten weiter.“ Der Riese Antaeus konnte das nicht.


Foto: Zünftiger Meinungsaustausch auf einem Gemälde („A Barroom Brawl“) von Anton Otto Fischer (1882–1962): „Ein Streit ist nie harmlos, nie frei von Herrschaft. Der Abgrund der Vernichtung ist immer da“ (Svenja Flaßpöhler)


Svenja Flaßpöhler Streiten. Hanser, Berlin 2024, gebunden, 128 Seiten, 20 Euro